Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Denkens geführt; wir bezeichnen das Verhältniß dieser Stufe
zu den älteren Versuchen, welche wir nunmehr hinter uns lassen.

Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fortschritten
lagen, wie die Entwicklung seit Thales zeigt, in der Erweiterung
der Erfahrung und der Anpassung von Erklärungen an deren
Thatbestand. Das Verfahren des Denkens, welches die Geschichte
der Wissenschaften hierbei gewahren läßt, ist ein Einsetzen von
Voraussetzungen (Substitution), alsdann eine versuchsweise Be-
nutzung derselben; unvollkommene Erklärungen gehen beständig
in großer Zahl zu Grunde, wie wir denn diese Grausamkeit des
Zweckzusammenhangs gegenüber der mühsamen Arbeit der Indi-
viduen beständig um uns ausgeübt sehen und selber von ihr be-
droht sind; lebensfähige dagegen passen sich den Anforderungen an
Erkenntniß der Wirklichkeit schrittweise an und bilden sich so fort.
So haben sich die Atomtheorie und die Lehre von den substan-
tialen Formen allmälig entwickelt. Und als Grundlage dieser
Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird,
wenn auch noch in bescheidenem Umfang, die Mathematik bereits
benutzt. -- Nun bestehen die Erklärungen der Wissenschaft bis zu
der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodischen
Schlußverfahren auf Ursachen, auf einen ursächlichen kosmischen
Zusammenhang. Von Plato ab ist Erklärung der methodische
Rückgang auf die Bedingungen
, unter welchen eine Wissen-
schaft vom Kosmos möglich ist. Diese Methode geht von der Korre-
spondenz des Erkenntnißzusammenhangs mit dem realen Zusammen-
hang im Kosmos aus. Daher sie, auf der Basis der natürlichen An-
sicht, diese Bedingungen zugleich in irgend einer Weise als Ursachen
(sonach als Voraussetzungen, Prinzipien) betrachtet. -- Wird diese
Form des wissenschaftlichen Verfahrens für sich dargestellt, so sondert
sich die Logik von dem metaphysischen System selber, wenn auch beide
vermittelst der Voraussetzung der Korrespondenz mit einander in
innerer Verbindung bleiben. Diesen Schritt sollte erst Aristoteles
thun, und damit verschaffte er dieser auf dem Boden der natürlichen
Weltansicht errichteten Metaphysik erst volle Klarheit über ihr Ver-
fahren. Seine Logik ist demgemäß nur die Darstellung der Form
der eben dargelegten vollkommneren Methode der Metaphysik.


Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Denkens geführt; wir bezeichnen das Verhältniß dieſer Stufe
zu den älteren Verſuchen, welche wir nunmehr hinter uns laſſen.

Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fortſchritten
lagen, wie die Entwicklung ſeit Thales zeigt, in der Erweiterung
der Erfahrung und der Anpaſſung von Erklärungen an deren
Thatbeſtand. Das Verfahren des Denkens, welches die Geſchichte
der Wiſſenſchaften hierbei gewahren läßt, iſt ein Einſetzen von
Vorausſetzungen (Subſtitution), alsdann eine verſuchsweiſe Be-
nutzung derſelben; unvollkommene Erklärungen gehen beſtändig
in großer Zahl zu Grunde, wie wir denn dieſe Grauſamkeit des
Zweckzuſammenhangs gegenüber der mühſamen Arbeit der Indi-
viduen beſtändig um uns ausgeübt ſehen und ſelber von ihr be-
droht ſind; lebensfähige dagegen paſſen ſich den Anforderungen an
Erkenntniß der Wirklichkeit ſchrittweiſe an und bilden ſich ſo fort.
So haben ſich die Atomtheorie und die Lehre von den ſubſtan-
tialen Formen allmälig entwickelt. Und als Grundlage dieſer
Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird,
wenn auch noch in beſcheidenem Umfang, die Mathematik bereits
benutzt. — Nun beſtehen die Erklärungen der Wiſſenſchaft bis zu
der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodiſchen
Schlußverfahren auf Urſachen, auf einen urſächlichen kosmiſchen
Zuſammenhang. Von Plato ab iſt Erklärung der methodiſche
Rückgang auf die Bedingungen
, unter welchen eine Wiſſen-
ſchaft vom Kosmos möglich iſt. Dieſe Methode geht von der Korre-
ſpondenz des Erkenntnißzuſammenhangs mit dem realen Zuſammen-
hang im Kosmos aus. Daher ſie, auf der Baſis der natürlichen An-
ſicht, dieſe Bedingungen zugleich in irgend einer Weiſe als Urſachen
(ſonach als Vorausſetzungen, Prinzipien) betrachtet. — Wird dieſe
Form des wiſſenſchaftlichen Verfahrens für ſich dargeſtellt, ſo ſondert
ſich die Logik von dem metaphyſiſchen Syſtem ſelber, wenn auch beide
vermittelſt der Vorausſetzung der Korreſpondenz mit einander in
innerer Verbindung bleiben. Dieſen Schritt ſollte erſt Ariſtoteles
thun, und damit verſchaffte er dieſer auf dem Boden der natürlichen
Weltanſicht errichteten Metaphyſik erſt volle Klarheit über ihr Ver-
fahren. Seine Logik iſt demgemäß nur die Darſtellung der Form
der eben dargelegten vollkommneren Methode der Metaphyſik.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0251" n="228"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/><hi rendition="#g">Denkens</hi> geführt; wir bezeichnen das Verhältniß die&#x017F;er Stufe<lb/>
zu den älteren Ver&#x017F;uchen, welche wir nunmehr hinter uns la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
              <p>Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fort&#x017F;chritten<lb/>
lagen, wie die Entwicklung &#x017F;eit Thales zeigt, in der Erweiterung<lb/>
der Erfahrung und der Anpa&#x017F;&#x017F;ung von Erklärungen an deren<lb/>
Thatbe&#x017F;tand. Das Verfahren des Denkens, welches die Ge&#x017F;chichte<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften hierbei gewahren läßt, i&#x017F;t ein Ein&#x017F;etzen von<lb/>
Voraus&#x017F;etzungen (Sub&#x017F;titution), alsdann eine ver&#x017F;uchswei&#x017F;e Be-<lb/>
nutzung der&#x017F;elben; unvollkommene Erklärungen gehen be&#x017F;tändig<lb/>
in großer Zahl zu Grunde, wie wir denn die&#x017F;e Grau&#x017F;amkeit des<lb/>
Zweckzu&#x017F;ammenhangs gegenüber der müh&#x017F;amen Arbeit der Indi-<lb/>
viduen be&#x017F;tändig um uns ausgeübt &#x017F;ehen und &#x017F;elber von ihr be-<lb/>
droht &#x017F;ind; lebensfähige dagegen pa&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich den Anforderungen an<lb/>
Erkenntniß der Wirklichkeit &#x017F;chrittwei&#x017F;e an und bilden &#x017F;ich &#x017F;o fort.<lb/>
So haben &#x017F;ich die Atomtheorie und die Lehre von den &#x017F;ub&#x017F;tan-<lb/>
tialen Formen allmälig entwickelt. Und als Grundlage die&#x017F;er<lb/>
Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird,<lb/>
wenn auch noch in be&#x017F;cheidenem Umfang, die Mathematik bereits<lb/>
benutzt. &#x2014; Nun be&#x017F;tehen die Erklärungen der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft bis zu<lb/>
der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodi&#x017F;chen<lb/>
Schlußverfahren auf Ur&#x017F;achen, auf einen ur&#x017F;ächlichen kosmi&#x017F;chen<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang. Von Plato ab i&#x017F;t Erklärung der <hi rendition="#g">methodi&#x017F;che<lb/>
Rückgang auf die Bedingungen</hi>, unter welchen eine Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft vom Kosmos möglich i&#x017F;t. Die&#x017F;e Methode geht von der Korre-<lb/>
&#x017F;pondenz des Erkenntnißzu&#x017F;ammenhangs mit dem realen Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang im Kosmos aus. Daher &#x017F;ie, auf der Ba&#x017F;is der natürlichen An-<lb/>
&#x017F;icht, die&#x017F;e Bedingungen zugleich in irgend einer Wei&#x017F;e als Ur&#x017F;achen<lb/>
(&#x017F;onach als Voraus&#x017F;etzungen, Prinzipien) betrachtet. &#x2014; Wird die&#x017F;e<lb/>
Form des wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Verfahrens für &#x017F;ich darge&#x017F;tellt, &#x017F;o &#x017F;ondert<lb/>
&#x017F;ich die Logik von dem metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Sy&#x017F;tem &#x017F;elber, wenn auch beide<lb/>
vermittel&#x017F;t der Voraus&#x017F;etzung der Korre&#x017F;pondenz mit einander in<lb/>
innerer Verbindung bleiben. Die&#x017F;en Schritt &#x017F;ollte er&#x017F;t Ari&#x017F;toteles<lb/>
thun, und damit ver&#x017F;chaffte er die&#x017F;er auf dem Boden der natürlichen<lb/>
Weltan&#x017F;icht errichteten Metaphy&#x017F;ik er&#x017F;t volle Klarheit über ihr Ver-<lb/>
fahren. Seine Logik i&#x017F;t demgemäß nur die Dar&#x017F;tellung der Form<lb/>
der eben dargelegten vollkommneren Methode der Metaphy&#x017F;ik.</p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0251] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Denkens geführt; wir bezeichnen das Verhältniß dieſer Stufe zu den älteren Verſuchen, welche wir nunmehr hinter uns laſſen. Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fortſchritten lagen, wie die Entwicklung ſeit Thales zeigt, in der Erweiterung der Erfahrung und der Anpaſſung von Erklärungen an deren Thatbeſtand. Das Verfahren des Denkens, welches die Geſchichte der Wiſſenſchaften hierbei gewahren läßt, iſt ein Einſetzen von Vorausſetzungen (Subſtitution), alsdann eine verſuchsweiſe Be- nutzung derſelben; unvollkommene Erklärungen gehen beſtändig in großer Zahl zu Grunde, wie wir denn dieſe Grauſamkeit des Zweckzuſammenhangs gegenüber der mühſamen Arbeit der Indi- viduen beſtändig um uns ausgeübt ſehen und ſelber von ihr be- droht ſind; lebensfähige dagegen paſſen ſich den Anforderungen an Erkenntniß der Wirklichkeit ſchrittweiſe an und bilden ſich ſo fort. So haben ſich die Atomtheorie und die Lehre von den ſubſtan- tialen Formen allmälig entwickelt. Und als Grundlage dieſer Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird, wenn auch noch in beſcheidenem Umfang, die Mathematik bereits benutzt. — Nun beſtehen die Erklärungen der Wiſſenſchaft bis zu der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodiſchen Schlußverfahren auf Urſachen, auf einen urſächlichen kosmiſchen Zuſammenhang. Von Plato ab iſt Erklärung der methodiſche Rückgang auf die Bedingungen, unter welchen eine Wiſſen- ſchaft vom Kosmos möglich iſt. Dieſe Methode geht von der Korre- ſpondenz des Erkenntnißzuſammenhangs mit dem realen Zuſammen- hang im Kosmos aus. Daher ſie, auf der Baſis der natürlichen An- ſicht, dieſe Bedingungen zugleich in irgend einer Weiſe als Urſachen (ſonach als Vorausſetzungen, Prinzipien) betrachtet. — Wird dieſe Form des wiſſenſchaftlichen Verfahrens für ſich dargeſtellt, ſo ſondert ſich die Logik von dem metaphyſiſchen Syſtem ſelber, wenn auch beide vermittelſt der Vorausſetzung der Korreſpondenz mit einander in innerer Verbindung bleiben. Dieſen Schritt ſollte erſt Ariſtoteles thun, und damit verſchaffte er dieſer auf dem Boden der natürlichen Weltanſicht errichteten Metaphyſik erſt volle Klarheit über ihr Ver- fahren. Seine Logik iſt demgemäß nur die Darſtellung der Form der eben dargelegten vollkommneren Methode der Metaphyſik.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/251
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/251>, abgerufen am 22.11.2024.