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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Socrates geht auf den Erkenntnißgrund zurück.
gesagt hatte: das sokratische Gespräch 1). In ihm wurde
das analytische, auf den letzten Erkenntnißgrund des wissenschaft-
lichen Bestandes, schließlich der wissenschaftlichen Ueberzeugung
überhaupt zurückgehende Verfahren in der Geschichte der Intelli-
genz entbunden. Und daher ward dies Gespräch, nachdem der
unermüdliche Frager durch seine Richter zum Schweigen gebracht
worden, zur Kunstform der Philosophie seiner Schule. -- Indem
er so die vorhandene Wissenschaft, die vorhandenen Ueberzeu-
gungen auf ihren Rechtsgrund prüfte, wies er nach, daß eine
Wissenschaft noch nicht vorhanden sei und zwar auf
keinem Gebiet 2). Von der ganzen Wissenschaft des Kosmos hielt
vor seiner Methode nur die Zurückführung des zweckmäßigen Zu-
sammenhangs im Kosmos auf eine weltbildende Vernunft Stand.
Er fand aber auch kein deutliches Bewußtsein der wissenschaft-
lichen Nothwendigkeit auf dem Gebiet des sittlichen, des gesell-
schaftlichen Lebens. Er sah das Handeln des Staatsmanns, das
Verfahren des Dichters ohne Klarheit über seinen Rechtsgrund und
daher unvermögend, sich vor dem Gedanken zu rechtfertigen. Aber
er entdeckte zugleich, daß gerecht und ungerecht, gut und
böse, schön und häßlich einen unwandelbaren, dem Streit
der Meinungen enthobenen Sinn haben.

Hier auf dem Gebiete des Handelns gelangte die Macht der
Selbstbesinnung, welche mit ihm in die Geschichte trat, zu positiven
Ergebnissen. Der Erkenntnißgrund der Sätze und Begriffe auf diesem
Gebiet liegt zunächst im sittlichen Bewußtsein. Indem Socrates von
den Allgemeinvorstellungen, die galten, den Sätzen, die herrschend
waren, ausging, prüfte er dieselben an einzelnen Fällen und dem
Verhalten des sittlichen Bewußtseins zu denselben und so, durch ent-
gegenstehende Instanzen hindurch schreitend, entwarf er sittliche
Begriffe. Sein Verfahren bestimmte sich daher hier näher dahin,
das sittliche Bewußtsein zu befragen, um an ihm als dem Er-
kenntnißgrunde aus den Allgemeinvorstellungen Begriffe zu ent-

1) Dieser Zusammenhang mit sokratischer Ironie vorgetragen Plat.
Apol. p. 21 b f., vgl. Xenoph. Mem. IV, 5 § 12.
2) Plat. Apol. 22--24.

Socrates geht auf den Erkenntnißgrund zurück.
geſagt hatte: das ſokratiſche Geſpräch 1). In ihm wurde
das analytiſche, auf den letzten Erkenntnißgrund des wiſſenſchaft-
lichen Beſtandes, ſchließlich der wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung
überhaupt zurückgehende Verfahren in der Geſchichte der Intelli-
genz entbunden. Und daher ward dies Geſpräch, nachdem der
unermüdliche Frager durch ſeine Richter zum Schweigen gebracht
worden, zur Kunſtform der Philoſophie ſeiner Schule. — Indem
er ſo die vorhandene Wiſſenſchaft, die vorhandenen Ueberzeu-
gungen auf ihren Rechtsgrund prüfte, wies er nach, daß eine
Wiſſenſchaft noch nicht vorhanden ſei und zwar auf
keinem Gebiet 2). Von der ganzen Wiſſenſchaft des Kosmos hielt
vor ſeiner Methode nur die Zurückführung des zweckmäßigen Zu-
ſammenhangs im Kosmos auf eine weltbildende Vernunft Stand.
Er fand aber auch kein deutliches Bewußtſein der wiſſenſchaft-
lichen Nothwendigkeit auf dem Gebiet des ſittlichen, des geſell-
ſchaftlichen Lebens. Er ſah das Handeln des Staatsmanns, das
Verfahren des Dichters ohne Klarheit über ſeinen Rechtsgrund und
daher unvermögend, ſich vor dem Gedanken zu rechtfertigen. Aber
er entdeckte zugleich, daß gerecht und ungerecht, gut und
böſe, ſchön und häßlich einen unwandelbaren, dem Streit
der Meinungen enthobenen Sinn haben.

Hier auf dem Gebiete des Handelns gelangte die Macht der
Selbſtbeſinnung, welche mit ihm in die Geſchichte trat, zu poſitiven
Ergebniſſen. Der Erkenntnißgrund der Sätze und Begriffe auf dieſem
Gebiet liegt zunächſt im ſittlichen Bewußtſein. Indem Socrates von
den Allgemeinvorſtellungen, die galten, den Sätzen, die herrſchend
waren, ausging, prüfte er dieſelben an einzelnen Fällen und dem
Verhalten des ſittlichen Bewußtſeins zu denſelben und ſo, durch ent-
gegenſtehende Inſtanzen hindurch ſchreitend, entwarf er ſittliche
Begriffe. Sein Verfahren beſtimmte ſich daher hier näher dahin,
das ſittliche Bewußtſein zu befragen, um an ihm als dem Er-
kenntnißgrunde aus den Allgemeinvorſtellungen Begriffe zu ent-

1) Dieſer Zuſammenhang mit ſokratiſcher Ironie vorgetragen Plat.
Apol. p. 21 b f., vgl. Xenoph. Mem. IV, 5 § 12.
2) Plat. Apol. 22—24.
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[223/0246] Socrates geht auf den Erkenntnißgrund zurück. geſagt hatte: das ſokratiſche Geſpräch 1). In ihm wurde das analytiſche, auf den letzten Erkenntnißgrund des wiſſenſchaft- lichen Beſtandes, ſchließlich der wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung überhaupt zurückgehende Verfahren in der Geſchichte der Intelli- genz entbunden. Und daher ward dies Geſpräch, nachdem der unermüdliche Frager durch ſeine Richter zum Schweigen gebracht worden, zur Kunſtform der Philoſophie ſeiner Schule. — Indem er ſo die vorhandene Wiſſenſchaft, die vorhandenen Ueberzeu- gungen auf ihren Rechtsgrund prüfte, wies er nach, daß eine Wiſſenſchaft noch nicht vorhanden ſei und zwar auf keinem Gebiet 2). Von der ganzen Wiſſenſchaft des Kosmos hielt vor ſeiner Methode nur die Zurückführung des zweckmäßigen Zu- ſammenhangs im Kosmos auf eine weltbildende Vernunft Stand. Er fand aber auch kein deutliches Bewußtſein der wiſſenſchaft- lichen Nothwendigkeit auf dem Gebiet des ſittlichen, des geſell- ſchaftlichen Lebens. Er ſah das Handeln des Staatsmanns, das Verfahren des Dichters ohne Klarheit über ſeinen Rechtsgrund und daher unvermögend, ſich vor dem Gedanken zu rechtfertigen. Aber er entdeckte zugleich, daß gerecht und ungerecht, gut und böſe, ſchön und häßlich einen unwandelbaren, dem Streit der Meinungen enthobenen Sinn haben. Hier auf dem Gebiete des Handelns gelangte die Macht der Selbſtbeſinnung, welche mit ihm in die Geſchichte trat, zu poſitiven Ergebniſſen. Der Erkenntnißgrund der Sätze und Begriffe auf dieſem Gebiet liegt zunächſt im ſittlichen Bewußtſein. Indem Socrates von den Allgemeinvorſtellungen, die galten, den Sätzen, die herrſchend waren, ausging, prüfte er dieſelben an einzelnen Fällen und dem Verhalten des ſittlichen Bewußtſeins zu denſelben und ſo, durch ent- gegenſtehende Inſtanzen hindurch ſchreitend, entwarf er ſittliche Begriffe. Sein Verfahren beſtimmte ſich daher hier näher dahin, das ſittliche Bewußtſein zu befragen, um an ihm als dem Er- kenntnißgrunde aus den Allgemeinvorſtellungen Begriffe zu ent- 1) Dieſer Zuſammenhang mit ſokratiſcher Ironie vorgetragen Plat. Apol. p. 21 b f., vgl. Xenoph. Mem. IV, 5 § 12. 2) Plat. Apol. 22—24.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/246>, abgerufen am 24.11.2024.