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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Gorgias. Socrates.
gethan; denn dies hätte in sich geschlossen, daß er von dem objek-
tiven Standpunkt auf den des Selbstbewußtseins über-
getreten
wäre. Vielmehr setzt der Streitsatz des Gorgias eben
voraus, daß ein anderes Sein als das der Außenwelt
nicht bestehe
. Er hebt -- ächt griechisch -- das Sein auf, indem
er zeigt, daß die Außenwelt durch die Begriffe, welche in ihr ent-
halten sind, nicht gedacht werden kann. Und zwar thut er dies ver-
mittelst einer Voraussetzung über das Sein, welche ihn in der objek-
tiven Wissenschaft vom Kosmos ganz befangen zeigt. Er zerstört
nämlich die Möglichkeit, daß das Sein als anfangslos und Eines
gedacht würde, welche die Eleaten übrig gelassen hatten, durch
Folgerungen aus der Räumlichkeit des Seienden. So erscheint diese
Räumlichkeit des Seins als die Voraussetzung seines Denkens 1).
Dem entspricht, daß er allem Seienden zumuthet, entweder be-
wegt oder ruhend zu sein, Bewegung aber dann in dem Sinne
faßt, daß sie Theilung einschließt. Der Gedanke liegt gar nicht
in seinem Gesichtskreis, daß nach der Zerstörung der Begriffe,
durch welche die Außenwelt gedacht werden kann, das Subjekt, in
welchem wahrgenommen und gedacht wird, als Realität zurückbleibe.
So sieht man den Skepticismus in diesem Kopfe an die Schranken
des griechischen Geistes anstoßen: er durchbricht sie nicht.

Denn bevor die Selbstbesinnung in dem Subjekt selber eine
keinem Zweifel unterworfene Realität aufdeckte, ward Realität nur
in der Vertiefung in den Naturzusammenhang aufgesucht. Wo daher
Realität im Alterthum geleugnet wurde, war diese Leugnung
entweder mit dem tragischen Bewußtsein der Trennung des Er-
kennens von seinem Objekte verbunden oder mit dem frivolen
Bewußtsein, welches mit dem Schein spielte und sich in ihm
sonnte 2).


1) Ps. Arist. de Melisso etc. p. 979 b 21 ff.
2) Langes Auffassung des Zusammenhangs der griechischen intellek-
tuellen Entwicklung gelangt zu der Antithese: "wir haben oben gezeigt, wie
abstrakt genommen, der Standpunkt der Sophisten hätte weiter ent-
wickelt werden können, aber wenn wir die treibenden Kräfte hätten nach-
weisen sollen, welche vielleicht ohne Dazwischenkunft der sokratischen Reaktion
solches geleistet hätten, so würden wir in Verlegenheit gerathen." Gesch.

Gorgias. Socrates.
gethan; denn dies hätte in ſich geſchloſſen, daß er von dem objek-
tiven Standpunkt auf den des Selbſtbewußtſeins über-
getreten
wäre. Vielmehr ſetzt der Streitſatz des Gorgias eben
voraus, daß ein anderes Sein als das der Außenwelt
nicht beſtehe
. Er hebt — ächt griechiſch — das Sein auf, indem
er zeigt, daß die Außenwelt durch die Begriffe, welche in ihr ent-
halten ſind, nicht gedacht werden kann. Und zwar thut er dies ver-
mittelſt einer Vorausſetzung über das Sein, welche ihn in der objek-
tiven Wiſſenſchaft vom Kosmos ganz befangen zeigt. Er zerſtört
nämlich die Möglichkeit, daß das Sein als anfangslos und Eines
gedacht würde, welche die Eleaten übrig gelaſſen hatten, durch
Folgerungen aus der Räumlichkeit des Seienden. So erſcheint dieſe
Räumlichkeit des Seins als die Vorausſetzung ſeines Denkens 1).
Dem entſpricht, daß er allem Seienden zumuthet, entweder be-
wegt oder ruhend zu ſein, Bewegung aber dann in dem Sinne
faßt, daß ſie Theilung einſchließt. Der Gedanke liegt gar nicht
in ſeinem Geſichtskreis, daß nach der Zerſtörung der Begriffe,
durch welche die Außenwelt gedacht werden kann, das Subjekt, in
welchem wahrgenommen und gedacht wird, als Realität zurückbleibe.
So ſieht man den Skepticismus in dieſem Kopfe an die Schranken
des griechiſchen Geiſtes anſtoßen: er durchbricht ſie nicht.

Denn bevor die Selbſtbeſinnung in dem Subjekt ſelber eine
keinem Zweifel unterworfene Realität aufdeckte, ward Realität nur
in der Vertiefung in den Naturzuſammenhang aufgeſucht. Wo daher
Realität im Alterthum geleugnet wurde, war dieſe Leugnung
entweder mit dem tragiſchen Bewußtſein der Trennung des Er-
kennens von ſeinem Objekte verbunden oder mit dem frivolen
Bewußtſein, welches mit dem Schein ſpielte und ſich in ihm
ſonnte 2).


1) Pſ. Ariſt. de Melisso etc. p. 979 b 21 ff.
2) Langes Auffaſſung des Zuſammenhangs der griechiſchen intellek-
tuellen Entwicklung gelangt zu der Antitheſe: „wir haben oben gezeigt, wie
abſtrakt genommen, der Standpunkt der Sophiſten hätte weiter ent-
wickelt werden können, aber wenn wir die treibenden Kräfte hätten nach-
weiſen ſollen, welche vielleicht ohne Dazwiſchenkunft der ſokratiſchen Reaktion
ſolches geleiſtet hätten, ſo würden wir in Verlegenheit gerathen.“ Geſch.
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[221/0244] Gorgias. Socrates. gethan; denn dies hätte in ſich geſchloſſen, daß er von dem objek- tiven Standpunkt auf den des Selbſtbewußtſeins über- getreten wäre. Vielmehr ſetzt der Streitſatz des Gorgias eben voraus, daß ein anderes Sein als das der Außenwelt nicht beſtehe. Er hebt — ächt griechiſch — das Sein auf, indem er zeigt, daß die Außenwelt durch die Begriffe, welche in ihr ent- halten ſind, nicht gedacht werden kann. Und zwar thut er dies ver- mittelſt einer Vorausſetzung über das Sein, welche ihn in der objek- tiven Wiſſenſchaft vom Kosmos ganz befangen zeigt. Er zerſtört nämlich die Möglichkeit, daß das Sein als anfangslos und Eines gedacht würde, welche die Eleaten übrig gelaſſen hatten, durch Folgerungen aus der Räumlichkeit des Seienden. So erſcheint dieſe Räumlichkeit des Seins als die Vorausſetzung ſeines Denkens 1). Dem entſpricht, daß er allem Seienden zumuthet, entweder be- wegt oder ruhend zu ſein, Bewegung aber dann in dem Sinne faßt, daß ſie Theilung einſchließt. Der Gedanke liegt gar nicht in ſeinem Geſichtskreis, daß nach der Zerſtörung der Begriffe, durch welche die Außenwelt gedacht werden kann, das Subjekt, in welchem wahrgenommen und gedacht wird, als Realität zurückbleibe. So ſieht man den Skepticismus in dieſem Kopfe an die Schranken des griechiſchen Geiſtes anſtoßen: er durchbricht ſie nicht. Denn bevor die Selbſtbeſinnung in dem Subjekt ſelber eine keinem Zweifel unterworfene Realität aufdeckte, ward Realität nur in der Vertiefung in den Naturzuſammenhang aufgeſucht. Wo daher Realität im Alterthum geleugnet wurde, war dieſe Leugnung entweder mit dem tragiſchen Bewußtſein der Trennung des Er- kennens von ſeinem Objekte verbunden oder mit dem frivolen Bewußtſein, welches mit dem Schein ſpielte und ſich in ihm ſonnte 2). 1) Pſ. Ariſt. de Melisso etc. p. 979 b 21 ff. 2) Langes Auffaſſung des Zuſammenhangs der griechiſchen intellek- tuellen Entwicklung gelangt zu der Antitheſe: „wir haben oben gezeigt, wie abſtrakt genommen, der Standpunkt der Sophiſten hätte weiter ent- wickelt werden können, aber wenn wir die treibenden Kräfte hätten nach- weiſen ſollen, welche vielleicht ohne Dazwiſchenkunft der ſokratiſchen Reaktion ſolches geleiſtet hätten, ſo würden wir in Verlegenheit gerathen.“ Geſch.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/244>, abgerufen am 24.11.2024.