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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
er konnte nicht die Realität der Bewegung außerhalb des Subjektes,
durch welche die Wahrnehmung ihm entstand, zugleich wieder da-
durch aufheben, daß er alle Dinglichkeit selber in Frage stellte 1). --
Er entwickelte alsdann die verschiedenen Zustände des empfinden-
den Subjekts und zeigte so die Bedingtheit der Qualitäten des
erscheinenden Objekts durch diese Zustände. So ging aus
seiner Wahrnehmungslehre die Paradoxie hervor, die Wahr-
nehmungen seien in Widerspruch miteinander, jedoch alle gleich
wahr 2).

Dieser Relativismus hat in Verbindung mit dem Skepti-
cismus der Eleaten und Herakliteer Plato bestimmt, die Erkenntniß
jenseit der veränderlichen Phänomene aufzusuchen; er konnte von
Aristoteles muthig weggedrängt, doch nicht widerlegt werden; er
behielt seine Anhänger und erscheint nach Aristoteles in der für
die griechische Metaphysik des Kosmos undurchdringlichen Rüstung
der skeptischen Schule.

Viel geringer waren die Schriften von Sophisten, welche aus
der negativen Richtung der eleatischen Schule skeptische Konsequenzen
zogen. Eine solche war die nihilistische Brandschrift des Gorgias
"über das Nichtseiende oder die Natur". Sie bezeichnet den
äußersten Punkt, zu welchem eine gehaltlose Skepsis fortging.
Aber es ist wichtig festzustellen, daß die Voraussetzungen der Me-
taphysik der Alten auch an diesem Punkte nicht überschritten
wurden. Wir haben keine Andeutung, daß Gorgias die Phänome-
nalität der Außenwelt behauptet hätte. Dies hat kein Grieche

1) Die Beziehung der Wahrnehmungslehre des Protagoras auf Hera-
klit und die Erklärung der Wahrnehmung durch ein Zusammentreffen der
Bewegungen, sonach eine Berührung, erscheint schon dadurch gesichert, daß
Protagoras seinem Theorem nur durch ein Eingehen in den Wahrnehmungs-
vorgang Anschaulichkeit geben konnte, die Möglichkeit aber ausgeschlossen ist,
daß er eine solche gegeben, Plato ihm aber eine ganz andere untergeschoben
hätte. Sie wird bestätigt durch die Darstellung des Sextus Empir. hypot.
I, 216
f. adv. Math. VII, 60 ff., welche nicht auf Plato als ausschließliche
Quelle zurückgeführt werden kann (Zeller I 4, 984). Von dieser Differenz
abgesehen verweise ich auch auf die Darstellung bei Laas, Idealismus und
Positivismus I, 1879.
2) Arist. Metaph. IV, 4 p. 1007 b 22.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
er konnte nicht die Realität der Bewegung außerhalb des Subjektes,
durch welche die Wahrnehmung ihm entſtand, zugleich wieder da-
durch aufheben, daß er alle Dinglichkeit ſelber in Frage ſtellte 1). —
Er entwickelte alsdann die verſchiedenen Zuſtände des empfinden-
den Subjekts und zeigte ſo die Bedingtheit der Qualitäten des
erſcheinenden Objekts durch dieſe Zuſtände. So ging aus
ſeiner Wahrnehmungslehre die Paradoxie hervor, die Wahr-
nehmungen ſeien in Widerſpruch miteinander, jedoch alle gleich
wahr 2).

Dieſer Relativismus hat in Verbindung mit dem Skepti-
cismus der Eleaten und Herakliteer Plato beſtimmt, die Erkenntniß
jenſeit der veränderlichen Phänomene aufzuſuchen; er konnte von
Ariſtoteles muthig weggedrängt, doch nicht widerlegt werden; er
behielt ſeine Anhänger und erſcheint nach Ariſtoteles in der für
die griechiſche Metaphyſik des Kosmos undurchdringlichen Rüſtung
der ſkeptiſchen Schule.

Viel geringer waren die Schriften von Sophiſten, welche aus
der negativen Richtung der eleatiſchen Schule ſkeptiſche Konſequenzen
zogen. Eine ſolche war die nihiliſtiſche Brandſchrift des Gorgias
„über das Nichtſeiende oder die Natur“. Sie bezeichnet den
äußerſten Punkt, zu welchem eine gehaltloſe Skepſis fortging.
Aber es iſt wichtig feſtzuſtellen, daß die Vorausſetzungen der Me-
taphyſik der Alten auch an dieſem Punkte nicht überſchritten
wurden. Wir haben keine Andeutung, daß Gorgias die Phänome-
nalität der Außenwelt behauptet hätte. Dies hat kein Grieche

1) Die Beziehung der Wahrnehmungslehre des Protagoras auf Hera-
klit und die Erklärung der Wahrnehmung durch ein Zuſammentreffen der
Bewegungen, ſonach eine Berührung, erſcheint ſchon dadurch geſichert, daß
Protagoras ſeinem Theorem nur durch ein Eingehen in den Wahrnehmungs-
vorgang Anſchaulichkeit geben konnte, die Möglichkeit aber ausgeſchloſſen iſt,
daß er eine ſolche gegeben, Plato ihm aber eine ganz andere untergeſchoben
hätte. Sie wird beſtätigt durch die Darſtellung des Sextus Empir. hypot.
I, 216
f. adv. Math. VII, 60 ff., welche nicht auf Plato als ausſchließliche
Quelle zurückgeführt werden kann (Zeller I 4, 984). Von dieſer Differenz
abgeſehen verweiſe ich auch auf die Darſtellung bei Laas, Idealismus und
Poſitivismus I, 1879.
2) Ariſt. Metaph. IV, 4 p. 1007 b 22.
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[220/0243] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. er konnte nicht die Realität der Bewegung außerhalb des Subjektes, durch welche die Wahrnehmung ihm entſtand, zugleich wieder da- durch aufheben, daß er alle Dinglichkeit ſelber in Frage ſtellte 1). — Er entwickelte alsdann die verſchiedenen Zuſtände des empfinden- den Subjekts und zeigte ſo die Bedingtheit der Qualitäten des erſcheinenden Objekts durch dieſe Zuſtände. So ging aus ſeiner Wahrnehmungslehre die Paradoxie hervor, die Wahr- nehmungen ſeien in Widerſpruch miteinander, jedoch alle gleich wahr 2). Dieſer Relativismus hat in Verbindung mit dem Skepti- cismus der Eleaten und Herakliteer Plato beſtimmt, die Erkenntniß jenſeit der veränderlichen Phänomene aufzuſuchen; er konnte von Ariſtoteles muthig weggedrängt, doch nicht widerlegt werden; er behielt ſeine Anhänger und erſcheint nach Ariſtoteles in der für die griechiſche Metaphyſik des Kosmos undurchdringlichen Rüſtung der ſkeptiſchen Schule. Viel geringer waren die Schriften von Sophiſten, welche aus der negativen Richtung der eleatiſchen Schule ſkeptiſche Konſequenzen zogen. Eine ſolche war die nihiliſtiſche Brandſchrift des Gorgias „über das Nichtſeiende oder die Natur“. Sie bezeichnet den äußerſten Punkt, zu welchem eine gehaltloſe Skepſis fortging. Aber es iſt wichtig feſtzuſtellen, daß die Vorausſetzungen der Me- taphyſik der Alten auch an dieſem Punkte nicht überſchritten wurden. Wir haben keine Andeutung, daß Gorgias die Phänome- nalität der Außenwelt behauptet hätte. Dies hat kein Grieche 1) Die Beziehung der Wahrnehmungslehre des Protagoras auf Hera- klit und die Erklärung der Wahrnehmung durch ein Zuſammentreffen der Bewegungen, ſonach eine Berührung, erſcheint ſchon dadurch geſichert, daß Protagoras ſeinem Theorem nur durch ein Eingehen in den Wahrnehmungs- vorgang Anſchaulichkeit geben konnte, die Möglichkeit aber ausgeſchloſſen iſt, daß er eine ſolche gegeben, Plato ihm aber eine ganz andere untergeſchoben hätte. Sie wird beſtätigt durch die Darſtellung des Sextus Empir. hypot. I, 216 f. adv. Math. VII, 60 ff., welche nicht auf Plato als ausſchließliche Quelle zurückgeführt werden kann (Zeller I 4, 984). Von dieſer Differenz abgeſehen verweiſe ich auch auf die Darſtellung bei Laas, Idealismus und Poſitivismus I, 1879. 2) Ariſt. Metaph. IV, 4 p. 1007 b 22.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/243>, abgerufen am 24.11.2024.