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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Parmenides anhaften, traten zu den Wahrheiten der Mathematik und
ermöglichten so einen festen Ansatz für die Erkenntniß der Natur.

Jedoch gelangte Parmenides von diesen Wahrheiten, in Folge
der unvollkommenen, unbestimmten Art, in welcher er sie auf-
faßte, zu Folgerungen, welche auch diese Weltansicht unbenutzbar
für positive Forschung
machten und ihr darum schließlich
nur Anwendbarkeit für die Beweisführungen des Skepticismus
übrig ließen. Die moderne Naturwissenschaft, indem sie von der
Erhaltung des Stoffs und der Kraft ausgeht, verlegt die ganze
Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Prädikate in die Rela-
tionen. Parmenides überspannt die Tragweite des als Grundsatz
des Naturerkennens gültigen ex nihilo nihil fit und konstruirt ein
ewiges, kontinuirlich im Raume sich erstreckendes, jede Veränderung
und Bewegung ausschließendes Sein, in welches ihm alle Voll-
kommenheit der göttlichen Weltordnung aufgeht. Er verneint von
ihm aus die wirkliche, veränderliche, mannigfaltige Welt, und so
wird ihm dann selbst ihr Schein unerklärlich.

So hoben denn Parmenides, Zeno, Melissus die ganze
Welterklärung aus den Angeln, welche die ihnen vorausgegangene
physische Wissenschaft geschaffen hatte. Diese ältere Physik hatte
den Kosmos von einem bildenden Prinzip aus, welches eine un-
bestimmte Veränderlichkeit in sich hat, mit den Hilfsmitteln der
Vorstellungen von Bewegung des Stoffes im Raume, qualitativer
Veränderung, Entstehung des Vielen aus dem Einen erklärt.
Nun wurden alle konstruktiven Prinzipien, mit
welchen diese Physik arbeitete, in Frage gestellt
. --
Was eine Größe hat, ist theilbar; so gelange ich nie zu dem
Einfachen, aus welchem das Zusammengesetzte besteht, wenn
ich nicht das Gebiet des Räumlichen verlasse. Verlasse ich aber
dieses, so kann ich aus unräumlich Einfachem nie das Räum-
liche zusammensetzen. Entsprechend kann jeder Zwischenraum
zwischen zwei räumlichen Größen in's Unendliche getheilt werden.
-- Andrerseits wird jede Raumgröße von einer anderen um-
faßt. -- Der Weg, den ein bewegter Körper durchläuft, ist in's
Unendliche theilbar.


Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Parmenides anhaften, traten zu den Wahrheiten der Mathematik und
ermöglichten ſo einen feſten Anſatz für die Erkenntniß der Natur.

Jedoch gelangte Parmenides von dieſen Wahrheiten, in Folge
der unvollkommenen, unbeſtimmten Art, in welcher er ſie auf-
faßte, zu Folgerungen, welche auch dieſe Weltanſicht unbenutzbar
für poſitive Forſchung
machten und ihr darum ſchließlich
nur Anwendbarkeit für die Beweisführungen des Skepticismus
übrig ließen. Die moderne Naturwiſſenſchaft, indem ſie von der
Erhaltung des Stoffs und der Kraft ausgeht, verlegt die ganze
Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Prädikate in die Rela-
tionen. Parmenides überſpannt die Tragweite des als Grundſatz
des Naturerkennens gültigen ex nihilo nihil fit und konſtruirt ein
ewiges, kontinuirlich im Raume ſich erſtreckendes, jede Veränderung
und Bewegung ausſchließendes Sein, in welches ihm alle Voll-
kommenheit der göttlichen Weltordnung aufgeht. Er verneint von
ihm aus die wirkliche, veränderliche, mannigfaltige Welt, und ſo
wird ihm dann ſelbſt ihr Schein unerklärlich.

So hoben denn Parmenides, Zeno, Meliſſus die ganze
Welterklärung aus den Angeln, welche die ihnen vorausgegangene
phyſiſche Wiſſenſchaft geſchaffen hatte. Dieſe ältere Phyſik hatte
den Kosmos von einem bildenden Prinzip aus, welches eine un-
beſtimmte Veränderlichkeit in ſich hat, mit den Hilfsmitteln der
Vorſtellungen von Bewegung des Stoffes im Raume, qualitativer
Veränderung, Entſtehung des Vielen aus dem Einen erklärt.
Nun wurden alle konſtruktiven Prinzipien, mit
welchen dieſe Phyſik arbeitete, in Frage geſtellt
. —
Was eine Größe hat, iſt theilbar; ſo gelange ich nie zu dem
Einfachen, aus welchem das Zuſammengeſetzte beſteht, wenn
ich nicht das Gebiet des Räumlichen verlaſſe. Verlaſſe ich aber
dieſes, ſo kann ich aus unräumlich Einfachem nie das Räum-
liche zuſammenſetzen. Entſprechend kann jeder Zwiſchenraum
zwiſchen zwei räumlichen Größen in’s Unendliche getheilt werden.
— Andrerſeits wird jede Raumgröße von einer anderen um-
faßt. — Der Weg, den ein bewegter Körper durchläuft, iſt in’s
Unendliche theilbar.


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[196/0219] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Parmenides anhaften, traten zu den Wahrheiten der Mathematik und ermöglichten ſo einen feſten Anſatz für die Erkenntniß der Natur. Jedoch gelangte Parmenides von dieſen Wahrheiten, in Folge der unvollkommenen, unbeſtimmten Art, in welcher er ſie auf- faßte, zu Folgerungen, welche auch dieſe Weltanſicht unbenutzbar für poſitive Forſchung machten und ihr darum ſchließlich nur Anwendbarkeit für die Beweisführungen des Skepticismus übrig ließen. Die moderne Naturwiſſenſchaft, indem ſie von der Erhaltung des Stoffs und der Kraft ausgeht, verlegt die ganze Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Prädikate in die Rela- tionen. Parmenides überſpannt die Tragweite des als Grundſatz des Naturerkennens gültigen ex nihilo nihil fit und konſtruirt ein ewiges, kontinuirlich im Raume ſich erſtreckendes, jede Veränderung und Bewegung ausſchließendes Sein, in welches ihm alle Voll- kommenheit der göttlichen Weltordnung aufgeht. Er verneint von ihm aus die wirkliche, veränderliche, mannigfaltige Welt, und ſo wird ihm dann ſelbſt ihr Schein unerklärlich. So hoben denn Parmenides, Zeno, Meliſſus die ganze Welterklärung aus den Angeln, welche die ihnen vorausgegangene phyſiſche Wiſſenſchaft geſchaffen hatte. Dieſe ältere Phyſik hatte den Kosmos von einem bildenden Prinzip aus, welches eine un- beſtimmte Veränderlichkeit in ſich hat, mit den Hilfsmitteln der Vorſtellungen von Bewegung des Stoffes im Raume, qualitativer Veränderung, Entſtehung des Vielen aus dem Einen erklärt. Nun wurden alle konſtruktiven Prinzipien, mit welchen dieſe Phyſik arbeitete, in Frage geſtellt. — Was eine Größe hat, iſt theilbar; ſo gelange ich nie zu dem Einfachen, aus welchem das Zuſammengeſetzte beſteht, wenn ich nicht das Gebiet des Räumlichen verlaſſe. Verlaſſe ich aber dieſes, ſo kann ich aus unräumlich Einfachem nie das Räum- liche zuſammenſetzen. Entſprechend kann jeder Zwiſchenraum zwiſchen zwei räumlichen Größen in’s Unendliche getheilt werden. — Andrerſeits wird jede Raumgröße von einer anderen um- faßt. — Der Weg, den ein bewegter Körper durchläuft, iſt in’s Unendliche theilbar.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/219>, abgerufen am 22.11.2024.