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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
ihre strahlenden Gestalten sind nun in diese metaphysische Welt
zusammengegangen. So ist es auch ein göttlicher Mund, der an
diesem Beginne seines Gedichts den ganzen Gegensatz von Wahr-
heit und Irrthum in folgenden Sätzen zusammenfaßt: das Seiende
ist, das Nichtseiende ist nicht; der Irrthum ist in der entgegen-
gesetzten Annahme begründet, daß das Nichtseiende Existenz habe,
daß das Sein nicht bestehe.

Die Fragmente sind nicht ausreichend, den genauen Sinn
festzustellen, welchen seine Erläuterung und Begründung dieses
seines Hauptsatzes gehabt hat 1). Es ist zweifellos, daß er diesen
Satz dadurch begründete, daß das Sein nicht von dem Denken
getrennt zu werden vermag; das Nichtseiende kann weder erkannt
noch ausgesprochen werden. Diese Beweisführung enthält augen-
scheinlich in sich, daß das Vorstellen, in welchem die Wirklichkeit
gegenwärtig ist, nicht mehr übrig bleibt, sobald man die in ihm
gegebene Wirklichkeit aufhebt. Doch ist ein solcher moderner Aus-
druck freilich in Gefahr, nicht den einfachen und ganzen Sinn
dieses alterthümlichen Denkens aufzufassen. Etwas einfacher und
dem Sprachgebrauch des Parmenides näher sagen wir: ist das
Sein nicht da (eine abstrakte Bezeichnung für das "ist", welches
die im Vorstellen gegebene Gegenständlichkeit ausdrückt), alsdann
kann ja auch kein Denken vorhanden sein. -- Da also nichts
Anderes außer dem Sein existirt, so ist auch das Denken gar nicht
etwas von dem Sein Unterschiedenes. Denn außer dem Sein ist
überhaupt Nichts; es ist gleichsam der Ort, in welchem auch die
Aussage stattfindet. Denken und Sein sind darum dasselbe. Nicht-
seiendes ist also ein Ungedanke, ein Nonsens in strengstem Ver-
stande 2).


1) Nach der Beschaffenheit unserer Nachrichten über Parmenides kann
die Erörterung seiner hervorragenden Stellung in der Geschichte der Meta-
physik leider nur vermittelst einer Art von subjektiver Reproduktion statt-
finden, die sonst nicht gestattet sein würde.
2) So erklärt sich wol der Sinn des viel discutirten Satzes: to gar
auto noein estin te kai einai (bei Mullach fr. phil. graec. I. 118, v. 40).
Wenn Zeller (I4, 512) estin liest und übersetzt: "denn dasselbe kann gedacht
werden und sein", so wäre noeisthai zu erwarten, das "Können" entspricht

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ihre ſtrahlenden Geſtalten ſind nun in dieſe metaphyſiſche Welt
zuſammengegangen. So iſt es auch ein göttlicher Mund, der an
dieſem Beginne ſeines Gedichts den ganzen Gegenſatz von Wahr-
heit und Irrthum in folgenden Sätzen zuſammenfaßt: das Seiende
iſt, das Nichtſeiende iſt nicht; der Irrthum iſt in der entgegen-
geſetzten Annahme begründet, daß das Nichtſeiende Exiſtenz habe,
daß das Sein nicht beſtehe.

Die Fragmente ſind nicht ausreichend, den genauen Sinn
feſtzuſtellen, welchen ſeine Erläuterung und Begründung dieſes
ſeines Hauptſatzes gehabt hat 1). Es iſt zweifellos, daß er dieſen
Satz dadurch begründete, daß das Sein nicht von dem Denken
getrennt zu werden vermag; das Nichtſeiende kann weder erkannt
noch ausgeſprochen werden. Dieſe Beweisführung enthält augen-
ſcheinlich in ſich, daß das Vorſtellen, in welchem die Wirklichkeit
gegenwärtig iſt, nicht mehr übrig bleibt, ſobald man die in ihm
gegebene Wirklichkeit aufhebt. Doch iſt ein ſolcher moderner Aus-
druck freilich in Gefahr, nicht den einfachen und ganzen Sinn
dieſes alterthümlichen Denkens aufzufaſſen. Etwas einfacher und
dem Sprachgebrauch des Parmenides näher ſagen wir: iſt das
Sein nicht da (eine abſtrakte Bezeichnung für das „iſt“, welches
die im Vorſtellen gegebene Gegenſtändlichkeit ausdrückt), alsdann
kann ja auch kein Denken vorhanden ſein. — Da alſo nichts
Anderes außer dem Sein exiſtirt, ſo iſt auch das Denken gar nicht
etwas von dem Sein Unterſchiedenes. Denn außer dem Sein iſt
überhaupt Nichts; es iſt gleichſam der Ort, in welchem auch die
Ausſage ſtattfindet. Denken und Sein ſind darum daſſelbe. Nicht-
ſeiendes iſt alſo ein Ungedanke, ein Nonſens in ſtrengſtem Ver-
ſtande 2).


1) Nach der Beſchaffenheit unſerer Nachrichten über Parmenides kann
die Erörterung ſeiner hervorragenden Stellung in der Geſchichte der Meta-
phyſik leider nur vermittelſt einer Art von ſubjektiver Reproduktion ſtatt-
finden, die ſonſt nicht geſtattet ſein würde.
2) So erklärt ſich wol der Sinn des viel discutirten Satzes: τὸ γὰϱ
αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (bei Mullach fr. phil. graec. I. 118, v. 40).
Wenn Zeller (I4, 512) ἔστιν lieſt und überſetzt: „denn daſſelbe kann gedacht
werden und ſein“, ſo wäre νοεῖσϑαι zu erwarten, das „Können“ entſpricht
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[194/0217] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. ihre ſtrahlenden Geſtalten ſind nun in dieſe metaphyſiſche Welt zuſammengegangen. So iſt es auch ein göttlicher Mund, der an dieſem Beginne ſeines Gedichts den ganzen Gegenſatz von Wahr- heit und Irrthum in folgenden Sätzen zuſammenfaßt: das Seiende iſt, das Nichtſeiende iſt nicht; der Irrthum iſt in der entgegen- geſetzten Annahme begründet, daß das Nichtſeiende Exiſtenz habe, daß das Sein nicht beſtehe. Die Fragmente ſind nicht ausreichend, den genauen Sinn feſtzuſtellen, welchen ſeine Erläuterung und Begründung dieſes ſeines Hauptſatzes gehabt hat 1). Es iſt zweifellos, daß er dieſen Satz dadurch begründete, daß das Sein nicht von dem Denken getrennt zu werden vermag; das Nichtſeiende kann weder erkannt noch ausgeſprochen werden. Dieſe Beweisführung enthält augen- ſcheinlich in ſich, daß das Vorſtellen, in welchem die Wirklichkeit gegenwärtig iſt, nicht mehr übrig bleibt, ſobald man die in ihm gegebene Wirklichkeit aufhebt. Doch iſt ein ſolcher moderner Aus- druck freilich in Gefahr, nicht den einfachen und ganzen Sinn dieſes alterthümlichen Denkens aufzufaſſen. Etwas einfacher und dem Sprachgebrauch des Parmenides näher ſagen wir: iſt das Sein nicht da (eine abſtrakte Bezeichnung für das „iſt“, welches die im Vorſtellen gegebene Gegenſtändlichkeit ausdrückt), alsdann kann ja auch kein Denken vorhanden ſein. — Da alſo nichts Anderes außer dem Sein exiſtirt, ſo iſt auch das Denken gar nicht etwas von dem Sein Unterſchiedenes. Denn außer dem Sein iſt überhaupt Nichts; es iſt gleichſam der Ort, in welchem auch die Ausſage ſtattfindet. Denken und Sein ſind darum daſſelbe. Nicht- ſeiendes iſt alſo ein Ungedanke, ein Nonſens in ſtrengſtem Ver- ſtande 2). 1) Nach der Beſchaffenheit unſerer Nachrichten über Parmenides kann die Erörterung ſeiner hervorragenden Stellung in der Geſchichte der Meta- phyſik leider nur vermittelſt einer Art von ſubjektiver Reproduktion ſtatt- finden, die ſonſt nicht geſtattet ſein würde. 2) So erklärt ſich wol der Sinn des viel discutirten Satzes: τὸ γὰϱ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (bei Mullach fr. phil. graec. I. 118, v. 40). Wenn Zeller (I4, 512) ἔστιν lieſt und überſetzt: „denn daſſelbe kann gedacht werden und ſein“, ſo wäre νοεῖσϑαι zu erwarten, das „Können“ entſpricht

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/217>, abgerufen am 25.11.2024.