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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das Erkennen ist auf die Substanz und das höchste Gut gerichtet.
lungen sah, schwer nachfühlen. Denn Religion und positive
Wissenschaft geben einem heutigen Menschen feste Anhaltspunkte
für seine Weltvorstellung. In dem Spiel der Phänomene besaß
ein Grieche jener Zeit nunmehr keinen festen Punkt. Weder die
mythische Religion konnte ihm einen solchen gewähren, noch bestand
positive Wissenschaft, welche ihm Haltpunkte darbieten konnte. --
Nun wird der Mensch jeder Zeit inne, daß seine Handlungen und
Zustände in seinem Ich gegründet sind. Er kann sich nicht vor-
stellen, daß dies Ich Zustand oder Thun von etwas sei, das
hinter dem Ich liege. Das ist sein Lebensgefühl. Und das
Andere, das Außen, welches er seinem Willen gegenüber findet,
ist ihm ebenso in allen Veränderungen Zustand und Aeußerung
einer Unterlage, welche nicht selber wieder Zustand oder Thun
von etwas hinter ihr ist. Gleichviel ob diese selbständige Unterlage
an dem einzelnen Ding gefunden wird oder an der Einen Spinozisti-
schen Substanz oder an den Atomen: das Außen, das uns im
Selbstbewußtsein gegeben ist, hat unweigerlich diesen Charakter.
Definiren wir Substanz als das, was Subjekt für alle
prädikativischen Bestimmungen, Unterlage für alle Zustände und
Thätigkeiten ist, so blickt der Mensch sozusagen durch den Wirbel
und das Farbenspiel der Phänomene in das Substanziale, was
dahinter ist; er kann nicht anders. Auch die Vorstellung des
Wirkens, der Begriff der Kausalität wird diesem Substanzialen
untergeordnet. Und in sich, in dem Wechsel seiner Antriebe,
Regungen, Zwecke muß er ebenfalls nach einem festen Punkte
suchen, der sein Handeln regele. So sind in ihm und
in dem, was außer ihm seiner Person gegenübertritt, dies
die beiden festen Punkte, welche die natürlichen Ziele seines
Nachdenkens bilden: die substanziale Unterlage des Außen und in
seinem Handeln der Zweck, der nicht Mittel ist, das höchste Gut
seines Willens.

Dieser Thatbestand erklärt, warum für die Philosophie der
Alten das wahrhafte Sein und das höchste Gut die beiden
centralen Fragen bilden. Diese Fragen sind nicht abgeleitet. Nicht
die subjektive Festigkeit der Aussage, die Nothwendigkeit der Ge-

Das Erkennen iſt auf die Subſtanz und das höchſte Gut gerichtet.
lungen ſah, ſchwer nachfühlen. Denn Religion und poſitive
Wiſſenſchaft geben einem heutigen Menſchen feſte Anhaltspunkte
für ſeine Weltvorſtellung. In dem Spiel der Phänomene beſaß
ein Grieche jener Zeit nunmehr keinen feſten Punkt. Weder die
mythiſche Religion konnte ihm einen ſolchen gewähren, noch beſtand
poſitive Wiſſenſchaft, welche ihm Haltpunkte darbieten konnte. —
Nun wird der Menſch jeder Zeit inne, daß ſeine Handlungen und
Zuſtände in ſeinem Ich gegründet ſind. Er kann ſich nicht vor-
ſtellen, daß dies Ich Zuſtand oder Thun von etwas ſei, das
hinter dem Ich liege. Das iſt ſein Lebensgefühl. Und das
Andere, das Außen, welches er ſeinem Willen gegenüber findet,
iſt ihm ebenſo in allen Veränderungen Zuſtand und Aeußerung
einer Unterlage, welche nicht ſelber wieder Zuſtand oder Thun
von etwas hinter ihr iſt. Gleichviel ob dieſe ſelbſtändige Unterlage
an dem einzelnen Ding gefunden wird oder an der Einen Spinoziſti-
ſchen Subſtanz oder an den Atomen: das Außen, das uns im
Selbſtbewußtſein gegeben iſt, hat unweigerlich dieſen Charakter.
Definiren wir Subſtanz als das, was Subjekt für alle
prädikativiſchen Beſtimmungen, Unterlage für alle Zuſtände und
Thätigkeiten iſt, ſo blickt der Menſch ſozuſagen durch den Wirbel
und das Farbenſpiel der Phänomene in das Subſtanziale, was
dahinter iſt; er kann nicht anders. Auch die Vorſtellung des
Wirkens, der Begriff der Kauſalität wird dieſem Subſtanzialen
untergeordnet. Und in ſich, in dem Wechſel ſeiner Antriebe,
Regungen, Zwecke muß er ebenfalls nach einem feſten Punkte
ſuchen, der ſein Handeln regele. So ſind in ihm und
in dem, was außer ihm ſeiner Perſon gegenübertritt, dies
die beiden feſten Punkte, welche die natürlichen Ziele ſeines
Nachdenkens bilden: die ſubſtanziale Unterlage des Außen und in
ſeinem Handeln der Zweck, der nicht Mittel iſt, das höchſte Gut
ſeines Willens.

Dieſer Thatbeſtand erklärt, warum für die Philoſophie der
Alten das wahrhafte Sein und das höchſte Gut die beiden
centralen Fragen bilden. Dieſe Fragen ſind nicht abgeleitet. Nicht
die ſubjektive Feſtigkeit der Ausſage, die Nothwendigkeit der Ge-

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[189/0212] Das Erkennen iſt auf die Subſtanz und das höchſte Gut gerichtet. lungen ſah, ſchwer nachfühlen. Denn Religion und poſitive Wiſſenſchaft geben einem heutigen Menſchen feſte Anhaltspunkte für ſeine Weltvorſtellung. In dem Spiel der Phänomene beſaß ein Grieche jener Zeit nunmehr keinen feſten Punkt. Weder die mythiſche Religion konnte ihm einen ſolchen gewähren, noch beſtand poſitive Wiſſenſchaft, welche ihm Haltpunkte darbieten konnte. — Nun wird der Menſch jeder Zeit inne, daß ſeine Handlungen und Zuſtände in ſeinem Ich gegründet ſind. Er kann ſich nicht vor- ſtellen, daß dies Ich Zuſtand oder Thun von etwas ſei, das hinter dem Ich liege. Das iſt ſein Lebensgefühl. Und das Andere, das Außen, welches er ſeinem Willen gegenüber findet, iſt ihm ebenſo in allen Veränderungen Zuſtand und Aeußerung einer Unterlage, welche nicht ſelber wieder Zuſtand oder Thun von etwas hinter ihr iſt. Gleichviel ob dieſe ſelbſtändige Unterlage an dem einzelnen Ding gefunden wird oder an der Einen Spinoziſti- ſchen Subſtanz oder an den Atomen: das Außen, das uns im Selbſtbewußtſein gegeben iſt, hat unweigerlich dieſen Charakter. Definiren wir Subſtanz als das, was Subjekt für alle prädikativiſchen Beſtimmungen, Unterlage für alle Zuſtände und Thätigkeiten iſt, ſo blickt der Menſch ſozuſagen durch den Wirbel und das Farbenſpiel der Phänomene in das Subſtanziale, was dahinter iſt; er kann nicht anders. Auch die Vorſtellung des Wirkens, der Begriff der Kauſalität wird dieſem Subſtanzialen untergeordnet. Und in ſich, in dem Wechſel ſeiner Antriebe, Regungen, Zwecke muß er ebenfalls nach einem feſten Punkte ſuchen, der ſein Handeln regele. So ſind in ihm und in dem, was außer ihm ſeiner Perſon gegenübertritt, dies die beiden feſten Punkte, welche die natürlichen Ziele ſeines Nachdenkens bilden: die ſubſtanziale Unterlage des Außen und in ſeinem Handeln der Zweck, der nicht Mittel iſt, das höchſte Gut ſeines Willens. Dieſer Thatbeſtand erklärt, warum für die Philoſophie der Alten das wahrhafte Sein und das höchſte Gut die beiden centralen Fragen bilden. Dieſe Fragen ſind nicht abgeleitet. Nicht die ſubjektive Feſtigkeit der Ausſage, die Nothwendigkeit der Ge-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/212>, abgerufen am 24.11.2024.