Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
gemeinen Bestimmungen eines jeden aufstellbaren Weltzusammen-
hangs ableitet, ein metaphysisches.

Dies metaphysische Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den
Zusammenhang der Wirklichkeit. Wol war dieser Zusammen-
hang in letzter Instanz im Bewußtsein begründet, er bildete mit
der geschichtlichen Welt erst das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat
das metaphysische Denken der Griechen diesen Zusammenhang
an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt
. Dies hatte zur
Folge, daß die metaphysischen Begriffe an die räumliche Anschauung
gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war schon
den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und
Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos
löste Alles, bis in den höchsten Begriff, zu welchem der griechische
Geist gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen
und Erscheinungen im Raume auf.

Vermögen wir nun das innere Gesetz auszudrücken, welches
in diesem Stadium von Erkenntniß der Zergliederung des
Zusammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? -- Die
Welt zeigte zunächst dem beginnenden wissenschaftlichen Denken
eine Vielheit einzelner Dinge, in Thun und Leiden veränderlich
verbunden, im Raume beweglich, wachsend und abnehmend,
ja entstehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte
einer der neu auftretenden Metaphysiker, sprachen irrthümlich
von Entstehen und Vergehen. In der That beweist schon die
Sprache, daß diese Vorstellungen die einfache Naturauffassung be-
herrschten. Wolken scheinen sich zu bilden und in der Luft zu
zergehen, so die einzelnen Dinge. Selbst die Götter des griechischen
Mythos waren in der Zeit entstanden. -- Das abgelaufene Jahr-
hundert griechischer Wissenschaft hatte nun durch die Vorstellung
eines ersten bildungskräftigen Stoffes und seiner Umwandlungen,
in Unteritalien durch den Gegensatz der begrenzenden, bildenden
Kraft und des Unbegrenzten, einen Zusammenhang unter diesen
Anschauungen hergestellt. Wir können die intellektuelle Verfassung
eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu
zweifeln begann und sich nun in diesem Wirbel der Stoffumwand-

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
gemeinen Beſtimmungen eines jeden aufſtellbaren Weltzuſammen-
hangs ableitet, ein metaphyſiſches.

Dies metaphyſiſche Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den
Zuſammenhang der Wirklichkeit. Wol war dieſer Zuſammen-
hang in letzter Inſtanz im Bewußtſein begründet, er bildete mit
der geſchichtlichen Welt erſt das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat
das metaphyſiſche Denken der Griechen dieſen Zuſammenhang
an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt
. Dies hatte zur
Folge, daß die metaphyſiſchen Begriffe an die räumliche Anſchauung
gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war ſchon
den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und
Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos
löſte Alles, bis in den höchſten Begriff, zu welchem der griechiſche
Geiſt gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen
und Erſcheinungen im Raume auf.

Vermögen wir nun das innere Geſetz auszudrücken, welches
in dieſem Stadium von Erkenntniß der Zergliederung des
Zuſammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? — Die
Welt zeigte zunächſt dem beginnenden wiſſenſchaftlichen Denken
eine Vielheit einzelner Dinge, in Thun und Leiden veränderlich
verbunden, im Raume beweglich, wachſend und abnehmend,
ja entſtehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte
einer der neu auftretenden Metaphyſiker, ſprachen irrthümlich
von Entſtehen und Vergehen. In der That beweiſt ſchon die
Sprache, daß dieſe Vorſtellungen die einfache Naturauffaſſung be-
herrſchten. Wolken ſcheinen ſich zu bilden und in der Luft zu
zergehen, ſo die einzelnen Dinge. Selbſt die Götter des griechiſchen
Mythos waren in der Zeit entſtanden. — Das abgelaufene Jahr-
hundert griechiſcher Wiſſenſchaft hatte nun durch die Vorſtellung
eines erſten bildungskräftigen Stoffes und ſeiner Umwandlungen,
in Unteritalien durch den Gegenſatz der begrenzenden, bildenden
Kraft und des Unbegrenzten, einen Zuſammenhang unter dieſen
Anſchauungen hergeſtellt. Wir können die intellektuelle Verfaſſung
eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu
zweifeln begann und ſich nun in dieſem Wirbel der Stoffumwand-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0211" n="188"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
gemeinen Be&#x017F;timmungen eines jeden auf&#x017F;tellbaren Weltzu&#x017F;ammen-<lb/>
hangs ableitet, ein <hi rendition="#g">metaphy&#x017F;i&#x017F;ches</hi>.</p><lb/>
            <p>Dies metaphy&#x017F;i&#x017F;che Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang der Wirklichkeit. Wol war die&#x017F;er Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang in letzter In&#x017F;tanz im Bewußt&#x017F;ein begründet, er bildete mit<lb/>
der ge&#x017F;chichtlichen Welt er&#x017F;t das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat<lb/>
das metaphy&#x017F;i&#x017F;che Denken der Griechen <hi rendition="#g">die&#x017F;en Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt</hi>. Dies hatte zur<lb/>
Folge, daß die metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Begriffe an die räumliche An&#x017F;chauung<lb/>
gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war &#x017F;chon<lb/>
den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und<lb/>
Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos<lb/>&#x017F;te Alles, bis in den höch&#x017F;ten Begriff, zu welchem der griechi&#x017F;che<lb/>
Gei&#x017F;t gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen<lb/>
und Er&#x017F;cheinungen im Raume auf.</p><lb/>
            <p>Vermögen wir nun das innere Ge&#x017F;etz auszudrücken, welches<lb/>
in die&#x017F;em Stadium von Erkenntniß der Zergliederung des<lb/>
Zu&#x017F;ammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? &#x2014; Die<lb/>
Welt zeigte zunäch&#x017F;t dem beginnenden wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Denken<lb/>
eine Vielheit einzelner Dinge, in Thun und Leiden veränderlich<lb/>
verbunden, im Raume beweglich, wach&#x017F;end und abnehmend,<lb/>
ja ent&#x017F;tehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte<lb/>
einer der neu auftretenden Metaphy&#x017F;iker, &#x017F;prachen irrthümlich<lb/>
von Ent&#x017F;tehen und Vergehen. In der That bewei&#x017F;t &#x017F;chon die<lb/>
Sprache, daß die&#x017F;e Vor&#x017F;tellungen die einfache Naturauffa&#x017F;&#x017F;ung be-<lb/>
herr&#x017F;chten. Wolken &#x017F;cheinen &#x017F;ich zu bilden und in der Luft zu<lb/>
zergehen, &#x017F;o die einzelnen Dinge. Selb&#x017F;t die Götter des griechi&#x017F;chen<lb/>
Mythos waren in der Zeit ent&#x017F;tanden. &#x2014; Das abgelaufene Jahr-<lb/>
hundert griechi&#x017F;cher Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hatte nun durch die Vor&#x017F;tellung<lb/>
eines er&#x017F;ten bildungskräftigen Stoffes und &#x017F;einer Umwandlungen,<lb/>
in Unteritalien durch den Gegen&#x017F;atz der begrenzenden, bildenden<lb/>
Kraft und des Unbegrenzten, einen Zu&#x017F;ammenhang unter die&#x017F;en<lb/>
An&#x017F;chauungen herge&#x017F;tellt. Wir können die intellektuelle Verfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu<lb/>
zweifeln begann und &#x017F;ich nun in die&#x017F;em Wirbel der Stoffumwand-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0211] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. gemeinen Beſtimmungen eines jeden aufſtellbaren Weltzuſammen- hangs ableitet, ein metaphyſiſches. Dies metaphyſiſche Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den Zuſammenhang der Wirklichkeit. Wol war dieſer Zuſammen- hang in letzter Inſtanz im Bewußtſein begründet, er bildete mit der geſchichtlichen Welt erſt das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat das metaphyſiſche Denken der Griechen dieſen Zuſammenhang an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt. Dies hatte zur Folge, daß die metaphyſiſchen Begriffe an die räumliche Anſchauung gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war ſchon den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos löſte Alles, bis in den höchſten Begriff, zu welchem der griechiſche Geiſt gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen und Erſcheinungen im Raume auf. Vermögen wir nun das innere Geſetz auszudrücken, welches in dieſem Stadium von Erkenntniß der Zergliederung des Zuſammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? — Die Welt zeigte zunächſt dem beginnenden wiſſenſchaftlichen Denken eine Vielheit einzelner Dinge, in Thun und Leiden veränderlich verbunden, im Raume beweglich, wachſend und abnehmend, ja entſtehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte einer der neu auftretenden Metaphyſiker, ſprachen irrthümlich von Entſtehen und Vergehen. In der That beweiſt ſchon die Sprache, daß dieſe Vorſtellungen die einfache Naturauffaſſung be- herrſchten. Wolken ſcheinen ſich zu bilden und in der Luft zu zergehen, ſo die einzelnen Dinge. Selbſt die Götter des griechiſchen Mythos waren in der Zeit entſtanden. — Das abgelaufene Jahr- hundert griechiſcher Wiſſenſchaft hatte nun durch die Vorſtellung eines erſten bildungskräftigen Stoffes und ſeiner Umwandlungen, in Unteritalien durch den Gegenſatz der begrenzenden, bildenden Kraft und des Unbegrenzten, einen Zuſammenhang unter dieſen Anſchauungen hergeſtellt. Wir können die intellektuelle Verfaſſung eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu zweifeln begann und ſich nun in dieſem Wirbel der Stoffumwand-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/211
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/211>, abgerufen am 24.11.2024.