Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen und suche ihren Zusammenhang. Und so ergiebt sich: die wichtigsten Bestandtheile unseres Bildes und unserer Erkenntniß der Wirk- lichkeit, wie eben persönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechselwirkung, sie alle können aus dieser ganzen Menschennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorstellen nur seine verschiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnißvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben.
Hier scheint sich das hartnäckigste aller Räthsel dieser Grund- legung, die Frage nach Ursprung und Recht unserer Ueberzeugung von der Realität der Außenwelt zu lösen. Dem bloßen Vorstellen bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unserem ganzen wollend fühlend vorstellenden Wesen ist uns mit unserem Selbst zugleich und so sicher als dieses äußere Wirklichkeit (d. h. ein von uns unabhängiges Andere, ganz abgesehen von seinen räumlichen Bestimmungen) gegeben; sonach als Leben, nicht als bloßes Vorstellen. Wir wissen von dieser Außenwelt nicht kraft eines Schlusses von Wirkungen auf Ursachen oder eines diesem Schluß entsprechenden Vorganges, vielmehr sind diese Vorstellungen von Wirkung und Ursache selber nur Abstraktionen aus dem Leben unseres Willens. So erweitert sich der Horizont der Er- fahrung, die zunächst nur von unsren eigenen inneren Zuständen Kunde zu geben schien; mit unserer Lebenseinheit zugleich ist uns eine Außenwelt gegeben, sind andere Lebenseinheiten vorhanden. Doch wieweit ich dies erweisen kann und wieweit es dann ferner überhaupt gelingt, von dem oben bezeichneten Standpunkte aus einen gesicherten Zusammenhang der Erkenntnisse von der Gesellschaft und Geschichte herzustellen, muß dem späteren Urtheil des Lesers über die Grundlegung selber anheimgegeben bleiben.
Ich habe nun eine gewisse Umständlichkeit nicht gescheut, um
Vorrede.
Erfahrung, Studium der Sprache und der Geſchichte ſie erweiſen und ſuche ihren Zuſammenhang. Und ſo ergiebt ſich: die wichtigſten Beſtandtheile unſeres Bildes und unſerer Erkenntniß der Wirk- lichkeit, wie eben perſönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechſelwirkung, ſie alle können aus dieſer ganzen Menſchennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorſtellen nur ſeine verſchiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines ſtarren a priori unſeres Erkenntnißvermögens, ſondern allein Entwicklungsgeſchichte, welche von der Totalität unſeres Weſens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philoſophie zu richten haben.
Hier ſcheint ſich das hartnäckigſte aller Räthſel dieſer Grund- legung, die Frage nach Urſprung und Recht unſerer Ueberzeugung von der Realität der Außenwelt zu löſen. Dem bloßen Vorſtellen bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unſerem ganzen wollend fühlend vorſtellenden Weſen iſt uns mit unſerem Selbſt zugleich und ſo ſicher als dieſes äußere Wirklichkeit (d. h. ein von uns unabhängiges Andere, ganz abgeſehen von ſeinen räumlichen Beſtimmungen) gegeben; ſonach als Leben, nicht als bloßes Vorſtellen. Wir wiſſen von dieſer Außenwelt nicht kraft eines Schluſſes von Wirkungen auf Urſachen oder eines dieſem Schluß entſprechenden Vorganges, vielmehr ſind dieſe Vorſtellungen von Wirkung und Urſache ſelber nur Abſtraktionen aus dem Leben unſeres Willens. So erweitert ſich der Horizont der Er- fahrung, die zunächſt nur von unſren eigenen inneren Zuſtänden Kunde zu geben ſchien; mit unſerer Lebenseinheit zugleich iſt uns eine Außenwelt gegeben, ſind andere Lebenseinheiten vorhanden. Doch wieweit ich dies erweiſen kann und wieweit es dann ferner überhaupt gelingt, von dem oben bezeichneten Standpunkte aus einen geſicherten Zuſammenhang der Erkenntniſſe von der Geſellſchaft und Geſchichte herzuſtellen, muß dem ſpäteren Urtheil des Leſers über die Grundlegung ſelber anheimgegeben bleiben.
Ich habe nun eine gewiſſe Umſtändlichkeit nicht geſcheut, um
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[XVIII/0021]
Vorrede.
Erfahrung, Studium der Sprache und der Geſchichte ſie erweiſen
und ſuche ihren Zuſammenhang. Und ſo ergiebt ſich: die wichtigſten
Beſtandtheile unſeres Bildes und unſerer Erkenntniß der Wirk-
lichkeit, wie eben perſönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen
außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechſelwirkung, ſie alle
können aus dieſer ganzen Menſchennatur erklärt werden, deren
realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorſtellen nur ſeine
verſchiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines ſtarren a priori
unſeres Erkenntnißvermögens, ſondern allein Entwicklungsgeſchichte,
welche von der Totalität unſeres Weſens ausgeht, kann die Fragen
beantworten, die wir alle an die Philoſophie zu richten haben.
Hier ſcheint ſich das hartnäckigſte aller Räthſel dieſer Grund-
legung, die Frage nach Urſprung und Recht unſerer Ueberzeugung
von der Realität der Außenwelt zu löſen. Dem bloßen Vorſtellen
bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unſerem
ganzen wollend fühlend vorſtellenden Weſen iſt uns mit unſerem
Selbſt zugleich und ſo ſicher als dieſes äußere Wirklichkeit (d. h.
ein von uns unabhängiges Andere, ganz abgeſehen von ſeinen
räumlichen Beſtimmungen) gegeben; ſonach als Leben, nicht als
bloßes Vorſtellen. Wir wiſſen von dieſer Außenwelt nicht kraft
eines Schluſſes von Wirkungen auf Urſachen oder eines dieſem
Schluß entſprechenden Vorganges, vielmehr ſind dieſe Vorſtellungen
von Wirkung und Urſache ſelber nur Abſtraktionen aus dem
Leben unſeres Willens. So erweitert ſich der Horizont der Er-
fahrung, die zunächſt nur von unſren eigenen inneren Zuſtänden
Kunde zu geben ſchien; mit unſerer Lebenseinheit zugleich iſt uns
eine Außenwelt gegeben, ſind andere Lebenseinheiten vorhanden.
Doch wieweit ich dies erweiſen kann und wieweit es dann ferner
überhaupt gelingt, von dem oben bezeichneten Standpunkte aus einen
geſicherten Zuſammenhang der Erkenntniſſe von der Geſellſchaft
und Geſchichte herzuſtellen, muß dem ſpäteren Urtheil des Leſers
über die Grundlegung ſelber anheimgegeben bleiben.
Ich habe nun eine gewiſſe Umſtändlichkeit nicht geſcheut, um
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/21>, abgerufen am 24.07.2024.
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