Denn Metaphysik ist eben das natürliche System, welches aus der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Gesetz des Erkennens entspringt. Metaphysik ist also überhaupt die Verfassung der Wissenschaft, unter deren Herrschaft das Studium des Menschen und der Gesellschaft sich entwickelt haben und unter deren Einfluß sie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und Grade, stehn.
An der Pforte der Geisteswissenschaften tritt uns daher die Metaphysik gegenüber, begleitet von dem Skepticismus, der von ihr unzertrennlich ist, gleichsam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Un- haltbarkeit bildet den negativen Theil der Grundlegung der einzelnen Geisteswissenschaften, welche wir im ersten Buch als nothwendig erkannt haben. Und zwar versuchen wir die abstrakte Beweis- führung des 18. Jahrhunderts durch die historische Erkenntniß dieses großen Phänomens zu ergänzen. Wol hat das 18. Jahr- hundert die Metaphysik widerlegt. Aber der deutsche Geist lebt, unterschieden von dem englischen und französischen, in dem historischen Bewußtsein der Kontinuität, deren Faden bei uns im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht seine historische Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment des gegenwärtigen geschichtlichen Bewußtseins bildet. So hat die Liebe zum großen Alterthum einerseits die gebrochene Metaphysik bei uns in edlen Geistern auch im 19. Jahrhundert gestützt; aber eben durch dieselbe gründliche Versenkung in den Geist des Vergangenen, in die Erforschung der Geschichte des Gedankens haben wir nun andrerseits die Mittel erworben, die Metaphysik in ihrem Ursprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geschichtlich zu erkennen. Denn die Menschheit wird diese große geistige Thatsache, wie jede andere, welche sich überlebt hat, welche aber ihre Tradition mit sich fortschleppt, nur völlig überwinden, indem sie dieselbe begreift.
Indem aber der Leser dieser Darstellung folgt, wird er ge- schichtlich für die erkenntnißtheoretische Grundlegung vorbereitet. Die Metaphysik, als das natürliche System, war, wie die folgende Darstellung begründen wird, ein nothwendiges Stadium in der geistigen Entwicklung der europäischen Völker. Daher
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Denn Metaphyſik iſt eben das natürliche Syſtem, welches aus der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Geſetz des Erkennens entſpringt. Metaphyſik iſt alſo überhaupt die Verfaſſung der Wiſſenſchaft, unter deren Herrſchaft das Studium des Menſchen und der Geſellſchaft ſich entwickelt haben und unter deren Einfluß ſie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und Grade, ſtehn.
An der Pforte der Geiſteswiſſenſchaften tritt uns daher die Metaphyſik gegenüber, begleitet von dem Skepticismus, der von ihr unzertrennlich iſt, gleichſam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Un- haltbarkeit bildet den negativen Theil der Grundlegung der einzelnen Geiſteswiſſenſchaften, welche wir im erſten Buch als nothwendig erkannt haben. Und zwar verſuchen wir die abſtrakte Beweis- führung des 18. Jahrhunderts durch die hiſtoriſche Erkenntniß dieſes großen Phänomens zu ergänzen. Wol hat das 18. Jahr- hundert die Metaphyſik widerlegt. Aber der deutſche Geiſt lebt, unterſchieden von dem engliſchen und franzöſiſchen, in dem hiſtoriſchen Bewußtſein der Kontinuität, deren Faden bei uns im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht ſeine hiſtoriſche Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment des gegenwärtigen geſchichtlichen Bewußtſeins bildet. So hat die Liebe zum großen Alterthum einerſeits die gebrochene Metaphyſik bei uns in edlen Geiſtern auch im 19. Jahrhundert geſtützt; aber eben durch dieſelbe gründliche Verſenkung in den Geiſt des Vergangenen, in die Erforſchung der Geſchichte des Gedankens haben wir nun andrerſeits die Mittel erworben, die Metaphyſik in ihrem Urſprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geſchichtlich zu erkennen. Denn die Menſchheit wird dieſe große geiſtige Thatſache, wie jede andere, welche ſich überlebt hat, welche aber ihre Tradition mit ſich fortſchleppt, nur völlig überwinden, indem ſie dieſelbe begreift.
Indem aber der Leſer dieſer Darſtellung folgt, wird er ge- ſchichtlich für die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung vorbereitet. Die Metaphyſik, als das natürliche Syſtem, war, wie die folgende Darſtellung begründen wird, ein nothwendiges Stadium in der geiſtigen Entwicklung der europäiſchen Völker. Daher
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0179"n="156"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.</fw><lb/>
Denn Metaphyſik iſt eben das natürliche Syſtem, welches aus<lb/>
der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Geſetz des Erkennens<lb/>
entſpringt. Metaphyſik iſt alſo überhaupt die Verfaſſung der<lb/>
Wiſſenſchaft, unter deren Herrſchaft das Studium des Menſchen<lb/>
und der Geſellſchaft ſich entwickelt haben und unter deren Einfluß<lb/>ſie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und<lb/>
Grade, ſtehn.</p><lb/><p>An der Pforte der Geiſteswiſſenſchaften tritt uns daher die<lb/>
Metaphyſik gegenüber, begleitet von dem Skepticismus, der von<lb/>
ihr unzertrennlich iſt, gleichſam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Un-<lb/>
haltbarkeit bildet den negativen Theil der Grundlegung der einzelnen<lb/>
Geiſteswiſſenſchaften, welche wir im erſten Buch als nothwendig<lb/>
erkannt haben. Und zwar verſuchen wir die abſtrakte Beweis-<lb/>
führung des 18. Jahrhunderts durch die hiſtoriſche Erkenntniß<lb/>
dieſes großen Phänomens zu ergänzen. Wol hat das 18. Jahr-<lb/>
hundert die Metaphyſik widerlegt. Aber der deutſche Geiſt lebt,<lb/>
unterſchieden von dem engliſchen und franzöſiſchen, in dem<lb/>
hiſtoriſchen Bewußtſein der Kontinuität, deren Faden bei uns<lb/>
im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht ſeine<lb/>
hiſtoriſche Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment<lb/>
des gegenwärtigen geſchichtlichen Bewußtſeins bildet. So hat die<lb/>
Liebe zum großen Alterthum einerſeits die gebrochene Metaphyſik<lb/>
bei uns in edlen Geiſtern auch im 19. Jahrhundert geſtützt;<lb/>
aber eben durch dieſelbe gründliche Verſenkung in den Geiſt des<lb/>
Vergangenen, in die Erforſchung der Geſchichte des Gedankens<lb/>
haben wir nun andrerſeits die Mittel erworben, die Metaphyſik in<lb/>
ihrem Urſprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geſchichtlich zu<lb/>
erkennen. Denn die Menſchheit wird dieſe große geiſtige Thatſache,<lb/>
wie jede andere, welche ſich überlebt hat, welche aber ihre Tradition<lb/>
mit ſich fortſchleppt, nur völlig überwinden, indem ſie dieſelbe begreift.</p><lb/><p>Indem aber der Leſer dieſer Darſtellung folgt, wird er ge-<lb/>ſchichtlich für die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung vorbereitet.<lb/>
Die Metaphyſik, als das natürliche Syſtem, war, wie die folgende<lb/>
Darſtellung begründen wird, ein <hirendition="#g">nothwendiges Stadium</hi><lb/>
in der geiſtigen Entwicklung der europäiſchen Völker. Daher<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[156/0179]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Denn Metaphyſik iſt eben das natürliche Syſtem, welches aus
der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Geſetz des Erkennens
entſpringt. Metaphyſik iſt alſo überhaupt die Verfaſſung der
Wiſſenſchaft, unter deren Herrſchaft das Studium des Menſchen
und der Geſellſchaft ſich entwickelt haben und unter deren Einfluß
ſie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und
Grade, ſtehn.
An der Pforte der Geiſteswiſſenſchaften tritt uns daher die
Metaphyſik gegenüber, begleitet von dem Skepticismus, der von
ihr unzertrennlich iſt, gleichſam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Un-
haltbarkeit bildet den negativen Theil der Grundlegung der einzelnen
Geiſteswiſſenſchaften, welche wir im erſten Buch als nothwendig
erkannt haben. Und zwar verſuchen wir die abſtrakte Beweis-
führung des 18. Jahrhunderts durch die hiſtoriſche Erkenntniß
dieſes großen Phänomens zu ergänzen. Wol hat das 18. Jahr-
hundert die Metaphyſik widerlegt. Aber der deutſche Geiſt lebt,
unterſchieden von dem engliſchen und franzöſiſchen, in dem
hiſtoriſchen Bewußtſein der Kontinuität, deren Faden bei uns
im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht ſeine
hiſtoriſche Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment
des gegenwärtigen geſchichtlichen Bewußtſeins bildet. So hat die
Liebe zum großen Alterthum einerſeits die gebrochene Metaphyſik
bei uns in edlen Geiſtern auch im 19. Jahrhundert geſtützt;
aber eben durch dieſelbe gründliche Verſenkung in den Geiſt des
Vergangenen, in die Erforſchung der Geſchichte des Gedankens
haben wir nun andrerſeits die Mittel erworben, die Metaphyſik in
ihrem Urſprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geſchichtlich zu
erkennen. Denn die Menſchheit wird dieſe große geiſtige Thatſache,
wie jede andere, welche ſich überlebt hat, welche aber ihre Tradition
mit ſich fortſchleppt, nur völlig überwinden, indem ſie dieſelbe begreift.
Indem aber der Leſer dieſer Darſtellung folgt, wird er ge-
ſchichtlich für die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung vorbereitet.
Die Metaphyſik, als das natürliche Syſtem, war, wie die folgende
Darſtellung begründen wird, ein nothwendiges Stadium
in der geiſtigen Entwicklung der europäiſchen Völker. Daher
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/179>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.