Nothwendigkeit der erkenntnißtheoretischen Grundlegung.
XIX. Die Nothwendigkeit einer erkenntnißtheoretischen Grundlegung für die Einzelwissenschaften des Geistes.
Alle Fäden der bisherigen Erwägungen laufen in der folgen- den Einsicht zusammen. Das Erkennen der geschichtlich-gesellschaft- lichen Wirklichkeit vollzieht sich in den Einzelwissenschaften des Geistes. Diese aber bedürfen ein Bewußtsein über das Verhält- niß ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, deren Theilinhalte sie sind, sowie zu den anderen Wahrheiten, die gleich ihnen aus dieser Wirklichkeit abstrahirt sind, und nur ein solches Bewußtsein kann ihren Begriffen die volle Klarheit, ihren Sätzen die volle Evidenz gewähren.
Aus diesen Prämissen ergiebt sich die Aufgabe, eine er- kenntnißtheoretische Grundlegung der Geisteswissen- schaften zu entwickeln, alsdann das in einer solchen geschaffene Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, die Grenzen, innerhalb deren ein Erkennen in ihnen möglich ist, sowie das Verhältniß ihrer Wahr- heiten zu einander zu bestimmen. Die Lösung dieser Aufgabe könnte als Kritik der historischen Vernunft d. h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen, bezeichnet werden.
Eine solche Grundlegung der Geisteswissenschaften muß sich, wenn sie ihr Ziel erreichen will, in zwei Punkten von den bis- herigen Arbeiten verwandter Art unterscheiden. Sie verknüpft Erkenntnißtheorie und Logik mit einander und bereitet so die Lösung der Aufgabe vor, welche im Schulbetrieb als Encyklopädie und Methodologie bezeichnet wird. Aber sie schränkt andrerseits ihr Problem auf das Gebiet der Geistes- wissenschaften ein.
Die Logik als Methodenlehre zu gestalten, ist die gemein- same Richtung aller hervorragenden logischen Arbeiten unseres Jahr-
Dilthey, Einleitung. 10
Nothwendigkeit der erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung.
XIX. Die Nothwendigkeit einer erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung für die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes.
Alle Fäden der bisherigen Erwägungen laufen in der folgen- den Einſicht zuſammen. Das Erkennen der geſchichtlich-geſellſchaft- lichen Wirklichkeit vollzieht ſich in den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes. Dieſe aber bedürfen ein Bewußtſein über das Verhält- niß ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, deren Theilinhalte ſie ſind, ſowie zu den anderen Wahrheiten, die gleich ihnen aus dieſer Wirklichkeit abſtrahirt ſind, und nur ein ſolches Bewußtſein kann ihren Begriffen die volle Klarheit, ihren Sätzen die volle Evidenz gewähren.
Aus dieſen Prämiſſen ergiebt ſich die Aufgabe, eine er- kenntnißtheoretiſche Grundlegung der Geiſteswiſſen- ſchaften zu entwickeln, alsdann das in einer ſolchen geſchaffene Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, die Grenzen, innerhalb deren ein Erkennen in ihnen möglich iſt, ſowie das Verhältniß ihrer Wahr- heiten zu einander zu beſtimmen. Die Löſung dieſer Aufgabe könnte als Kritik der hiſtoriſchen Vernunft d. h. des Vermögens des Menſchen, ſich ſelber und die von ihm geſchaffene Geſellſchaft und Geſchichte zu erkennen, bezeichnet werden.
Eine ſolche Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften muß ſich, wenn ſie ihr Ziel erreichen will, in zwei Punkten von den bis- herigen Arbeiten verwandter Art unterſcheiden. Sie verknüpft Erkenntnißtheorie und Logik mit einander und bereitet ſo die Löſung der Aufgabe vor, welche im Schulbetrieb als Encyklopädie und Methodologie bezeichnet wird. Aber ſie ſchränkt andrerſeits ihr Problem auf das Gebiet der Geiſtes- wiſſenſchaften ein.
Die Logik als Methodenlehre zu geſtalten, iſt die gemein- ſame Richtung aller hervorragenden logiſchen Arbeiten unſeres Jahr-
Dilthey, Einleitung. 10
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Nothwendigkeit der erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung.
XIX.
Die Nothwendigkeit einer erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung
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Alle Fäden der bisherigen Erwägungen laufen in der folgen-
den Einſicht zuſammen. Das Erkennen der geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Wirklichkeit vollzieht ſich in den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes. Dieſe aber bedürfen ein Bewußtſein über das Verhält-
niß ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, deren Theilinhalte ſie
ſind, ſowie zu den anderen Wahrheiten, die gleich ihnen aus dieſer
Wirklichkeit abſtrahirt ſind, und nur ein ſolches Bewußtſein kann
ihren Begriffen die volle Klarheit, ihren Sätzen die volle Evidenz
gewähren.
Aus dieſen Prämiſſen ergiebt ſich die Aufgabe, eine er-
kenntnißtheoretiſche Grundlegung der Geiſteswiſſen-
ſchaften zu entwickeln, alsdann das in einer ſolchen geſchaffene
Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zuſammenhang der
Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, die Grenzen, innerhalb deren ein
Erkennen in ihnen möglich iſt, ſowie das Verhältniß ihrer Wahr-
heiten zu einander zu beſtimmen. Die Löſung dieſer Aufgabe
könnte als Kritik der hiſtoriſchen Vernunft d. h. des Vermögens
des Menſchen, ſich ſelber und die von ihm geſchaffene Geſellſchaft
und Geſchichte zu erkennen, bezeichnet werden.
Eine ſolche Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften muß ſich,
wenn ſie ihr Ziel erreichen will, in zwei Punkten von den bis-
herigen Arbeiten verwandter Art unterſcheiden. Sie verknüpft
Erkenntnißtheorie und Logik mit einander und bereitet
ſo die Löſung der Aufgabe vor, welche im Schulbetrieb als
Encyklopädie und Methodologie bezeichnet wird. Aber ſie ſchränkt
andrerſeits ihr Problem auf das Gebiet der Geiſtes-
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/168>, abgerufen am 21.11.2024.
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