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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
welche einen solchen regelmäßigen Fortgang in der Geschichte des
Wissens verhindert haben.

Es giebt innerhalb der geschichtlichen Welt, die ja, dem
Meere gleich, immer in Wellen bewegt ist, neben den dauernden
Thatbeständen, welche, Theilinhalte der psychophysischen Wechsel-
wirkung wie sie sind, als Religionen, Staaten, Künste dauernde
Gebilde darstellen und als solche von den Einzelwissenschaften des
Geistes erforscht werden, auch umfangreiche und in sich zusammen-
hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die
innerhalb der geschichtlichen Wechselwirkung auftreten, wachsen und
sich ausbreiten, um dann bald wieder zu verschwinden. Revolu-
tionen, Epochen, Bewegungen: das sind Namen für diese geschicht-
lichen Phänomene, welche weit schwerer faßbar sind als die dauern-
den Gestaltungen, welche die äußere Organisation der Gesellschaft
oder die Systeme der Kultur hervorbringen. Schon Aristoteles
hat den Revolutionen eine scharfsinnige Untersuchung gewidmet.
Es sind aber besonders die geistigen Bewegungen, welche mit der
Zeit einer sehr exakten Behandlung zugänglich werden müssen, da sie
quantitative Bestimmungen gestatten. Von der Epoche der Geschichte
ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg-
lichkeit erlangt hat, sind wir durch Anwendung der statistischen
Methode auf den Bestand der Bibliotheken im Stande, die In-
tensität geistiger Bewegungen, die Vertheilung des Interesses in
einem bestimmten Zeitpunkt der Gesellschaft zu messen; so werden
wir in Stand gesetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen
eines Kulturkreises ab, dem Grad von Spannung und Interesse in
ihm, durch die ersten tastenden Versuche, bis zu einer genialen
Schöpfung vorstellig zu machen. Die Darstellung der Ergebnisse
einer solchen Statistik wird durch graphische Darstellung sehr an
Anschaulichkeit gewinnen.

So wird die positive Wissenschaft auch die mehr vorüber-
gehenden Zusammenhänge inmitten der allgemeinen Wechselwirkung
der Individuen in der Gesellschaft der theoretischen Behandlung
zu unterwerfen bemüht sein. Doch wir sind an der Grenze an-
gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber-
leitet -- von der aus wir zu fernen Küsten hinüberblicken.



Erſtes einleitendes Buch.
welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des
Wiſſens verhindert haben.

Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem
Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden
Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel-
wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde
Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen-
hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die
innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und
ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu-
tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht-
lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern-
den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft
oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles
hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet.
Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der
Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie
quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte
ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg-
lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen
Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In-
tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in
einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden
wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen
eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in
ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen
Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe
einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an
Anſchaulichkeit gewinnen.

So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber-
gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung
der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung
zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an-
gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber-
leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.



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[144/0167] Erſtes einleitendes Buch. welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des Wiſſens verhindert haben. Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel- wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen- hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu- tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht- lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern- den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet. Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg- lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In- tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an Anſchaulichkeit gewinnen. So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber- gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an- gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber- leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/167>, abgerufen am 25.11.2024.