Wachsende Ausdehnung u. Vervollkommnung d. Geisteswissenschaft.
logie ausgedehnt, und es verspricht, allmälig allen Einzelwissen- schaften des Geistes den Charakter von wirklichen Theorien zu geben. Der Zusammenhang mit der Anthropologie wird von keinem der positiven Forscher mehr vernachlässigt.
Die Wissenschaften der Systeme der Kultur und der äußeren Organisation der Gesellschaft stehen aber mit der Anthropologie hauptsächlich durch jene psychischen und psychophysischen Thatsachen in Verbindung, welche ich als solche zweiter Ordnung bezeichnet habe. Die Analysis dieser Thatsachen, welche in der Wechsel- wirkung der Individuen in der Gesellschaft sich bilden und keines- wegs in die der Anthropologie völlig auflöslich sind, bedingt in einem erheblichen Grade die theoretische Strenge der Einzelwissen- schaften, denen sie zu Grunde liegen. Die Thatsachen von Bedürfniß, Arbeit, Herrschaft, Befriedigung sind psychophysischer Natur; sie sind Bestandtheile der Grundlagen der politischen Oekonomie, der Staats- und Rechtswissenschaft, und ihre Zergliederung gestattet, sozusagen in die Mechanik der Gesellschaft einzudringen. Man könnte sich eine allgemeine Betrachtungsweise denken, gewissermaßen eine Psychophysik der Gesellschaft, welche die Beziehungen zwischen der Vertheilung der veränderlichen Gesammtmasse des psychischen Lebens auf der Erdoberfläche und der Vertheilung derjenigen Kräfte zum Gegenstande hätte, die in der Natur bereit liegen, in den Dienst dieser Gesammtmasse gebracht sind und durch deren Leistungen diese schließlich ihre Bedürfnisse befriedigt. Andere wichtige psychische Thatsachen liegen den Systemen der höheren geistigen Kultur zu Grunde, so die Thatsache der Uebertragung und der in ihr sich vollziehenden Umbildung. In der Uebertragung verbleibt ein Zu- stand in A während er auf B übergeht; hierauf gründen sich die quantitativen Beziehungen in jedem System einer geistigen Be- wegung. Geht man davon aus, daß in der Wissenschaft eine vollständige Uebertragbarkeit der Begriffe und Sätze von dem Denker der sie aufgefunden auf den dessen Fassungskraft der Auf- gabe ihres Verständnisses angemessen ist übergeht: so entsteht das interessante Problem, die Ursachen der Störungen zu erforschen,
Wachſende Ausdehnung u. Vervollkommnung d. Geiſteswiſſenſchaft.
logie ausgedehnt, und es verſpricht, allmälig allen Einzelwiſſen- ſchaften des Geiſtes den Charakter von wirklichen Theorien zu geben. Der Zuſammenhang mit der Anthropologie wird von keinem der poſitiven Forſcher mehr vernachläſſigt.
Die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſtehen aber mit der Anthropologie hauptſächlich durch jene pſychiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen in Verbindung, welche ich als ſolche zweiter Ordnung bezeichnet habe. Die Analyſis dieſer Thatſachen, welche in der Wechſel- wirkung der Individuen in der Geſellſchaft ſich bilden und keines- wegs in die der Anthropologie völlig auflöslich ſind, bedingt in einem erheblichen Grade die theoretiſche Strenge der Einzelwiſſen- ſchaften, denen ſie zu Grunde liegen. Die Thatſachen von Bedürfniß, Arbeit, Herrſchaft, Befriedigung ſind pſychophyſiſcher Natur; ſie ſind Beſtandtheile der Grundlagen der politiſchen Oekonomie, der Staats- und Rechtswiſſenſchaft, und ihre Zergliederung geſtattet, ſozuſagen in die Mechanik der Geſellſchaft einzudringen. Man könnte ſich eine allgemeine Betrachtungsweiſe denken, gewiſſermaßen eine Pſychophyſik der Geſellſchaft, welche die Beziehungen zwiſchen der Vertheilung der veränderlichen Geſammtmaſſe des pſychiſchen Lebens auf der Erdoberfläche und der Vertheilung derjenigen Kräfte zum Gegenſtande hätte, die in der Natur bereit liegen, in den Dienſt dieſer Geſammtmaſſe gebracht ſind und durch deren Leiſtungen dieſe ſchließlich ihre Bedürfniſſe befriedigt. Andere wichtige pſychiſche Thatſachen liegen den Syſtemen der höheren geiſtigen Kultur zu Grunde, ſo die Thatſache der Uebertragung und der in ihr ſich vollziehenden Umbildung. In der Uebertragung verbleibt ein Zu- ſtand in A während er auf B übergeht; hierauf gründen ſich die quantitativen Beziehungen in jedem Syſtem einer geiſtigen Be- wegung. Geht man davon aus, daß in der Wiſſenſchaft eine vollſtändige Uebertragbarkeit der Begriffe und Sätze von dem Denker der ſie aufgefunden auf den deſſen Faſſungskraft der Auf- gabe ihres Verſtändniſſes angemeſſen iſt übergeht: ſo entſteht das intereſſante Problem, die Urſachen der Störungen zu erforſchen,
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Wachſende Ausdehnung u. Vervollkommnung d. Geiſteswiſſenſchaft.
logie ausgedehnt, und es verſpricht, allmälig allen Einzelwiſſen-
ſchaften des Geiſtes den Charakter von wirklichen Theorien zu
geben. Der Zuſammenhang mit der Anthropologie wird von
keinem der poſitiven Forſcher mehr vernachläſſigt.
Die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur und der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft ſtehen aber mit der Anthropologie
hauptſächlich durch jene pſychiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen
in Verbindung, welche ich als ſolche zweiter Ordnung bezeichnet
habe. Die Analyſis dieſer Thatſachen, welche in der Wechſel-
wirkung der Individuen in der Geſellſchaft ſich bilden und keines-
wegs in die der Anthropologie völlig auflöslich ſind, bedingt in
einem erheblichen Grade die theoretiſche Strenge der Einzelwiſſen-
ſchaften, denen ſie zu Grunde liegen. Die Thatſachen von Bedürfniß,
Arbeit, Herrſchaft, Befriedigung ſind pſychophyſiſcher Natur; ſie
ſind Beſtandtheile der Grundlagen der politiſchen Oekonomie, der
Staats- und Rechtswiſſenſchaft, und ihre Zergliederung geſtattet,
ſozuſagen in die Mechanik der Geſellſchaft einzudringen. Man
könnte ſich eine allgemeine Betrachtungsweiſe denken, gewiſſermaßen
eine Pſychophyſik der Geſellſchaft, welche die Beziehungen zwiſchen
der Vertheilung der veränderlichen Geſammtmaſſe des pſychiſchen
Lebens auf der Erdoberfläche und der Vertheilung derjenigen Kräfte
zum Gegenſtande hätte, die in der Natur bereit liegen, in den
Dienſt dieſer Geſammtmaſſe gebracht ſind und durch deren Leiſtungen
dieſe ſchließlich ihre Bedürfniſſe befriedigt. Andere wichtige pſychiſche
Thatſachen liegen den Syſtemen der höheren geiſtigen Kultur zu
Grunde, ſo die Thatſache der Uebertragung und der in ihr ſich
vollziehenden Umbildung. In der Uebertragung verbleibt ein Zu-
ſtand in A während er auf B übergeht; hierauf gründen ſich die
quantitativen Beziehungen in jedem Syſtem einer geiſtigen Be-
wegung. Geht man davon aus, daß in der Wiſſenſchaft eine
vollſtändige Uebertragbarkeit der Begriffe und Sätze von dem
Denker der ſie aufgefunden auf den deſſen Faſſungskraft der Auf-
gabe ihres Verſtändniſſes angemeſſen iſt übergeht: ſo entſteht das
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/166>, abgerufen am 22.11.2024.
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