Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. theilen, zwischen den Funktionen eines Organismus stattfindet, ver-glichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters oder einer Epoche zu Grunde und jede kulturgeschichtliche Schilderung geht von ihnen aus. Hegel erfaßte sie höchst energisch; es war sein Kunstgriff, literarische Erzeugnisse eines Zeitalters zu benutzen, um auf die Geistesverfassung desselben von ihnen aus ein Licht zu werfen, wie denn hierauf seine irrige Theorie von dem für den ganzen Geist eine Zeit repräsentativen Charakter philosophischer Systeme gegründet war. Die französischen und englischen Socio- logen fassen diese Beziehungen in dem Begriff des Consensus zwischen gleichzeitigen gesellschaftlichen Erscheinungen zusammen. Aber ein genauer Ausdruck für die Verwandtschaft zwischen den verschiedenartigen Bestandtheilen, für die Abhängigkeit des einen vom anderen setzt auch hier augenscheinlich die Unterscheidung der einzelnen Glieder und Systeme voraus, welche den status socie- tatis bilden; schon eine Uebersicht über den Charakter der Kultur in einer Epoche muß zeigen, wie in der Verschiedenheit der Glieder und Systeme der Gesellschaft gleichartige Grundverhältnisse sich als Verwandtschaft äußern. Diesem Verhältniß, welches die Methodologie der Geistes- Erſtes einleitendes Buch. theilen, zwiſchen den Funktionen eines Organismus ſtattfindet, ver-glichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters oder einer Epoche zu Grunde und jede kulturgeſchichtliche Schilderung geht von ihnen aus. Hegel erfaßte ſie höchſt energiſch; es war ſein Kunſtgriff, literariſche Erzeugniſſe eines Zeitalters zu benutzen, um auf die Geiſtesverfaſſung deſſelben von ihnen aus ein Licht zu werfen, wie denn hierauf ſeine irrige Theorie von dem für den ganzen Geiſt eine Zeit repräſentativen Charakter philoſophiſcher Syſteme gegründet war. Die franzöſiſchen und engliſchen Socio- logen faſſen dieſe Beziehungen in dem Begriff des Conſenſus zwiſchen gleichzeitigen geſellſchaftlichen Erſcheinungen zuſammen. Aber ein genauer Ausdruck für die Verwandtſchaft zwiſchen den verſchiedenartigen Beſtandtheilen, für die Abhängigkeit des einen vom anderen ſetzt auch hier augenſcheinlich die Unterſcheidung der einzelnen Glieder und Syſteme voraus, welche den status socie- tatis bilden; ſchon eine Ueberſicht über den Charakter der Kultur in einer Epoche muß zeigen, wie in der Verſchiedenheit der Glieder und Syſteme der Geſellſchaft gleichartige Grundverhältniſſe ſich als Verwandtſchaft äußern. Dieſem Verhältniß, welches die Methodologie der Geiſtes- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0163" n="140"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> theilen, zwiſchen den Funktionen eines Organismus ſtattfindet, ver-<lb/> glichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters<lb/> oder einer Epoche zu Grunde und jede kulturgeſchichtliche Schilderung<lb/> geht von ihnen aus. Hegel erfaßte ſie höchſt energiſch; es war<lb/> ſein Kunſtgriff, literariſche Erzeugniſſe eines Zeitalters zu benutzen,<lb/> um auf die Geiſtesverfaſſung deſſelben von ihnen aus ein Licht<lb/> zu werfen, wie denn hierauf ſeine irrige Theorie von dem für den<lb/> ganzen Geiſt eine Zeit repräſentativen Charakter philoſophiſcher<lb/> Syſteme gegründet war. 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Erſtes einleitendes Buch.
theilen, zwiſchen den Funktionen eines Organismus ſtattfindet, ver-
glichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters
oder einer Epoche zu Grunde und jede kulturgeſchichtliche Schilderung
geht von ihnen aus. Hegel erfaßte ſie höchſt energiſch; es war
ſein Kunſtgriff, literariſche Erzeugniſſe eines Zeitalters zu benutzen,
um auf die Geiſtesverfaſſung deſſelben von ihnen aus ein Licht
zu werfen, wie denn hierauf ſeine irrige Theorie von dem für den
ganzen Geiſt eine Zeit repräſentativen Charakter philoſophiſcher
Syſteme gegründet war. Die franzöſiſchen und engliſchen Socio-
logen faſſen dieſe Beziehungen in dem Begriff des Conſenſus
zwiſchen gleichzeitigen geſellſchaftlichen Erſcheinungen zuſammen.
Aber ein genauer Ausdruck für die Verwandtſchaft zwiſchen den
verſchiedenartigen Beſtandtheilen, für die Abhängigkeit des einen
vom anderen ſetzt auch hier augenſcheinlich die Unterſcheidung der
einzelnen Glieder und Syſteme voraus, welche den status socie-
tatis bilden; ſchon eine Ueberſicht über den Charakter der Kultur
in einer Epoche muß zeigen, wie in der Verſchiedenheit der Glieder
und Syſteme der Geſellſchaft gleichartige Grundverhältniſſe ſich
als Verwandtſchaft äußern.
Dieſem Verhältniß, welches die Methodologie der Geiſtes-
wiſſenſchaften tiefer zu entwickeln haben wird, entſpricht der thatſäch-
liche Beſtand der allgemeinen Wahrheiten in der Philoſo-
phie der Geſchichte und der Sociologie. Vico, Turgot, Condorcet,
Herder waren in erſter Linie Univerſalhiſtoriker in philoſophiſcher
Abſicht. Der umfaſſende Blick, durch welchen ſie Wiſſenſchaften
miteinander combinirten, wie Vico Jurisprudenz und Philologie,
Herder Naturkunde und Geſchichte, Turgot politiſche Oekonomie,
Naturwiſſenſchaften und Geſchichte hat der modernen Geſchichts-
wiſſenſchaft erſt ihre Wege gebahnt. Der Name der Philoſophie
der Geſchichte, ja nicht ſelten daſſelbe Werk umfaßt aber mit dieſen
Arbeiten, welche fruchtbare Combinationen in der Richtung einer
wahren Univerſalgeſchichte vollzogen, zugleich Theorien ganz
anderer Art, welche der Gemeinſchaft mit jenen Arbeiten den
größten Theil ihres Anſehns verdanken. Aus dieſen Formeln,
welche den Sinn der Geſchichte auszuſprechen beanſpruchen, iſt
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