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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Methode der Sociologie Comte's ist falsch.
höchsten Punkte der Wissenschaften umgekehrt; die Generalisation
aus dem in der Geschichte gegebenen Stoff ist der Schwerpunkt
des Verfahrens der Wissenschaft der Gesellschaft und die Deduktion
aus den Ergebnissen der Biologie dient nur zur Verificirung
der so gefundenen Gesetze. -- Dieser Einordnung der geistigen Er-
scheinungen unter den Zusammenhang der Naturerkenntniß liegen
zwei Annahmen zu Grunde, von denen die eine unbeweisbar, die
andere augenscheinlich falsch ist. Die Annahme der ausschließlichen
Bedingtheit psychischer Zustände durch physiologische ist ein vor-
eiliger Schluß aus Thatbeständen, welche nach dem Urtheil der
unbefangenen physiologischen Forscher selber durchaus keine Ent-
scheidung gestatten 1). Die Behauptung, innere Wahrnehmung sei
in sich unmöglich und unfruchtbar, "ein Unternehmen, das unsere
Nachkommen einmal zu ihrer Belustigung auf die Bühne gebracht
sehen werden", ist aus einer Entstellung des Wahrnehmungsvor-
gangs in irriger Weise gefolgert, und wird ausführlich widerlegt
werden.

In diesem Zusammenhang der Hierarchie der Wissenschaften
entwickelt Comte "die nothwendige Richtung des Gesammtzusammen-
hangs der menschheitlichen Entwicklung" 2), welche ihm alsdann
als Prinzip für die Leitung der Gesellschaft dient, aus der
Anschauung des geschichtlichen Weltlaufs und verificirt sie durch
die Biologie. -- In der biologischen Verification berühren wir
augenscheinlich den Lebensknoten seiner Sociologie. Welche ist
also die biologische Grundlage, deren Herstellung erst die Schöpf-
ung der Sociologie ermöglichte? Comte erklärt: die Methode,
deren die Sociologie sich bedient, mußte erst auf dem Gebiet
der Naturforschung ausgebildet werden. Das Mittel (milieu),
in dem der Mensch sich befindet, mußte erst in den Wissenschaften
der anorganischen Natur erkannt werden. Sei das, wir ver-
langen aber einen Zusammenhang, der in den Mittelpunkt der
Sociologie selber hineinreicht. Es ist schwer, ein Lächeln zurück-

1) So auch wieder Hitzig in den Untersuchungen über das Gehirn.
S. 56 u. a. a. O., wozu vgl. Wundts Physiol. Psychologie. Sechster Ab-
schnitt des zweiten Bandes. Aufl. 2. 1880.
2) 4, 631.

Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch.
höchſten Punkte der Wiſſenſchaften umgekehrt; die Generaliſation
aus dem in der Geſchichte gegebenen Stoff iſt der Schwerpunkt
des Verfahrens der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und die Deduktion
aus den Ergebniſſen der Biologie dient nur zur Verificirung
der ſo gefundenen Geſetze. — Dieſer Einordnung der geiſtigen Er-
ſcheinungen unter den Zuſammenhang der Naturerkenntniß liegen
zwei Annahmen zu Grunde, von denen die eine unbeweisbar, die
andere augenſcheinlich falſch iſt. Die Annahme der ausſchließlichen
Bedingtheit pſychiſcher Zuſtände durch phyſiologiſche iſt ein vor-
eiliger Schluß aus Thatbeſtänden, welche nach dem Urtheil der
unbefangenen phyſiologiſchen Forſcher ſelber durchaus keine Ent-
ſcheidung geſtatten 1). Die Behauptung, innere Wahrnehmung ſei
in ſich unmöglich und unfruchtbar, „ein Unternehmen, das unſere
Nachkommen einmal zu ihrer Beluſtigung auf die Bühne gebracht
ſehen werden“, iſt aus einer Entſtellung des Wahrnehmungsvor-
gangs in irriger Weiſe gefolgert, und wird ausführlich widerlegt
werden.

In dieſem Zuſammenhang der Hierarchie der Wiſſenſchaften
entwickelt Comte „die nothwendige Richtung des Geſammtzuſammen-
hangs der menſchheitlichen Entwicklung“ 2), welche ihm alsdann
als Prinzip für die Leitung der Geſellſchaft dient, aus der
Anſchauung des geſchichtlichen Weltlaufs und verificirt ſie durch
die Biologie. — In der biologiſchen Verification berühren wir
augenſcheinlich den Lebensknoten ſeiner Sociologie. Welche iſt
alſo die biologiſche Grundlage, deren Herſtellung erſt die Schöpf-
ung der Sociologie ermöglichte? Comte erklärt: die Methode,
deren die Sociologie ſich bedient, mußte erſt auf dem Gebiet
der Naturforſchung ausgebildet werden. Das Mittel (milieu),
in dem der Menſch ſich befindet, mußte erſt in den Wiſſenſchaften
der anorganiſchen Natur erkannt werden. Sei das, wir ver-
langen aber einen Zuſammenhang, der in den Mittelpunkt der
Sociologie ſelber hineinreicht. Es iſt ſchwer, ein Lächeln zurück-

1) So auch wieder Hitzig in den Unterſuchungen über das Gehirn.
S. 56 u. a. a. O., wozu vgl. Wundts Phyſiol. Pſychologie. Sechſter Ab-
ſchnitt des zweiten Bandes. Aufl. 2. 1880.
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[133/0156] Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch. höchſten Punkte der Wiſſenſchaften umgekehrt; die Generaliſation aus dem in der Geſchichte gegebenen Stoff iſt der Schwerpunkt des Verfahrens der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und die Deduktion aus den Ergebniſſen der Biologie dient nur zur Verificirung der ſo gefundenen Geſetze. — Dieſer Einordnung der geiſtigen Er- ſcheinungen unter den Zuſammenhang der Naturerkenntniß liegen zwei Annahmen zu Grunde, von denen die eine unbeweisbar, die andere augenſcheinlich falſch iſt. Die Annahme der ausſchließlichen Bedingtheit pſychiſcher Zuſtände durch phyſiologiſche iſt ein vor- eiliger Schluß aus Thatbeſtänden, welche nach dem Urtheil der unbefangenen phyſiologiſchen Forſcher ſelber durchaus keine Ent- ſcheidung geſtatten 1). Die Behauptung, innere Wahrnehmung ſei in ſich unmöglich und unfruchtbar, „ein Unternehmen, das unſere Nachkommen einmal zu ihrer Beluſtigung auf die Bühne gebracht ſehen werden“, iſt aus einer Entſtellung des Wahrnehmungsvor- gangs in irriger Weiſe gefolgert, und wird ausführlich widerlegt werden. In dieſem Zuſammenhang der Hierarchie der Wiſſenſchaften entwickelt Comte „die nothwendige Richtung des Geſammtzuſammen- hangs der menſchheitlichen Entwicklung“ 2), welche ihm alsdann als Prinzip für die Leitung der Geſellſchaft dient, aus der Anſchauung des geſchichtlichen Weltlaufs und verificirt ſie durch die Biologie. — In der biologiſchen Verification berühren wir augenſcheinlich den Lebensknoten ſeiner Sociologie. Welche iſt alſo die biologiſche Grundlage, deren Herſtellung erſt die Schöpf- ung der Sociologie ermöglichte? Comte erklärt: die Methode, deren die Sociologie ſich bedient, mußte erſt auf dem Gebiet der Naturforſchung ausgebildet werden. Das Mittel (milieu), in dem der Menſch ſich befindet, mußte erſt in den Wiſſenſchaften der anorganiſchen Natur erkannt werden. Sei das, wir ver- langen aber einen Zuſammenhang, der in den Mittelpunkt der Sociologie ſelber hineinreicht. Es iſt ſchwer, ein Lächeln zurück- 1) So auch wieder Hitzig in den Unterſuchungen über das Gehirn. S. 56 u. a. a. O., wozu vgl. Wundts Phyſiol. Pſychologie. Sechſter Ab- ſchnitt des zweiten Bandes. Aufl. 2. 1880. 2) 4, 631.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/156>, abgerufen am 25.11.2024.