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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Oder einen unbeweisbaren Zusammenhang.
wesens will er die Menschengeschichte in strengem Causalzusammen-
hang entwickeln. Ist er doch ein Schüler von Leibnitz und durch
Spinoza nur noch härter gegen die äußeren Endzwecke gestimmt 1).
Die Zweckmäßigkeit, die in der Weltgeschichte wie im Naturreich
waltet, vollzieht sich nach ihm nur in der Form des Causalzusammen-
hangs. Dieser weisen Zurückhaltung entspricht nun, daß er zwar
das Problem Lessings anerkannte -- aber es als transscendent
zurück ließ. "Wenn Jemand sagte, daß nicht der einzelne Mensch,
sondern das Geschlecht erzogen werde, so spräche er für mich un-
verständlich, da Geschlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe
sind, außer, insofern sie in einzelnen Wesen existiren -- als wenn
ich von der Thierheit, der Steinheit im Allgemeinen spräche." Er
verwirft das ausdrücklich als mittelalterliche Metaphysik, und er
steht also mit Lessing auf dem gesunden Boden des Realismus, der
nur Individuen kennt, sonach als Sinn des Weltlaufs auch nur Ent-
wicklung der Individuen. Aber in Bezug auf jede Vorstellung von
der Art dieser Entwicklung der Individuen bemerkt er, mit deutlichem
Wink auf Lessing: "Auf welchen Wegen dies geschehen werde --
welche Philosophie der Erde wäre es, die hierüber Gewißheit gäbe?"

Ich entwickle nicht wie nahe Lotze's Auffassung der Philo-
sophie der Geschichte sich mit der von Herder berührt, sowol in
Bezug auf die Verknüpfung von causaler mit teleologischer Be-
trachtung als in Bezug auf den Realismus, der nur Indivi-
duen und was ihrer Entwicklung dient anerkennt. An diesem
Punkte hat Lotze doch über Herder hinausgehen zu müssen ge-
glaubt. Er thut das indem er sozusagen die Methode, in
welcher Kant den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit
begründete, auf den planvollen Zusammenhang der Geschichte
anwendet und so als Bedingung desselben einen Antheil
der Abgeschiednen an dem Fortschritt der Geschichte aufzu-
zeigen sucht. "Keine Erziehung der Menschheit ist denkbar, ohne

1) Ideen, Buch 14, 6: "Die Philosophie der Endzwecke hat der Natur-
geschichte keinen Vortheil gebracht, sondern ihre Liebhaber vielmehr statt
der Untersuchung mit scheinbarem Wahne befriedigt; wie viel mehr die
tausendzweckige, in einander greifende Menschengeschichte."
Dilthey, Einleitung. 9

Oder einen unbeweisbaren Zuſammenhang.
weſens will er die Menſchengeſchichte in ſtrengem Cauſalzuſammen-
hang entwickeln. Iſt er doch ein Schüler von Leibnitz und durch
Spinoza nur noch härter gegen die äußeren Endzwecke geſtimmt 1).
Die Zweckmäßigkeit, die in der Weltgeſchichte wie im Naturreich
waltet, vollzieht ſich nach ihm nur in der Form des Cauſalzuſammen-
hangs. Dieſer weiſen Zurückhaltung entſpricht nun, daß er zwar
das Problem Leſſings anerkannte — aber es als transſcendent
zurück ließ. „Wenn Jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch,
ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpräche er für mich un-
verſtändlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe
ſind, außer, inſofern ſie in einzelnen Weſen exiſtiren — als wenn
ich von der Thierheit, der Steinheit im Allgemeinen ſpräche.“ Er
verwirft das ausdrücklich als mittelalterliche Metaphyſik, und er
ſteht alſo mit Leſſing auf dem geſunden Boden des Realismus, der
nur Individuen kennt, ſonach als Sinn des Weltlaufs auch nur Ent-
wicklung der Individuen. Aber in Bezug auf jede Vorſtellung von
der Art dieſer Entwicklung der Individuen bemerkt er, mit deutlichem
Wink auf Leſſing: „Auf welchen Wegen dies geſchehen werde —
welche Philoſophie der Erde wäre es, die hierüber Gewißheit gäbe?“

Ich entwickle nicht wie nahe Lotze’s Auffaſſung der Philo-
ſophie der Geſchichte ſich mit der von Herder berührt, ſowol in
Bezug auf die Verknüpfung von cauſaler mit teleologiſcher Be-
trachtung als in Bezug auf den Realismus, der nur Indivi-
duen und was ihrer Entwicklung dient anerkennt. An dieſem
Punkte hat Lotze doch über Herder hinausgehen zu müſſen ge-
glaubt. Er thut das indem er ſozuſagen die Methode, in
welcher Kant den Glauben an Gott und die Unſterblichkeit
begründete, auf den planvollen Zuſammenhang der Geſchichte
anwendet und ſo als Bedingung deſſelben einen Antheil
der Abgeſchiednen an dem Fortſchritt der Geſchichte aufzu-
zeigen ſucht. „Keine Erziehung der Menſchheit iſt denkbar, ohne

1) Ideen, Buch 14, 6: „Die Philoſophie der Endzwecke hat der Natur-
geſchichte keinen Vortheil gebracht, ſondern ihre Liebhaber vielmehr ſtatt
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Dilthey, Einleitung. 9
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[129/0152] Oder einen unbeweisbaren Zuſammenhang. weſens will er die Menſchengeſchichte in ſtrengem Cauſalzuſammen- hang entwickeln. Iſt er doch ein Schüler von Leibnitz und durch Spinoza nur noch härter gegen die äußeren Endzwecke geſtimmt 1). Die Zweckmäßigkeit, die in der Weltgeſchichte wie im Naturreich waltet, vollzieht ſich nach ihm nur in der Form des Cauſalzuſammen- hangs. Dieſer weiſen Zurückhaltung entſpricht nun, daß er zwar das Problem Leſſings anerkannte — aber es als transſcendent zurück ließ. „Wenn Jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch, ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpräche er für mich un- verſtändlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe ſind, außer, inſofern ſie in einzelnen Weſen exiſtiren — als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit im Allgemeinen ſpräche.“ Er verwirft das ausdrücklich als mittelalterliche Metaphyſik, und er ſteht alſo mit Leſſing auf dem geſunden Boden des Realismus, der nur Individuen kennt, ſonach als Sinn des Weltlaufs auch nur Ent- wicklung der Individuen. Aber in Bezug auf jede Vorſtellung von der Art dieſer Entwicklung der Individuen bemerkt er, mit deutlichem Wink auf Leſſing: „Auf welchen Wegen dies geſchehen werde — welche Philoſophie der Erde wäre es, die hierüber Gewißheit gäbe?“ Ich entwickle nicht wie nahe Lotze’s Auffaſſung der Philo- ſophie der Geſchichte ſich mit der von Herder berührt, ſowol in Bezug auf die Verknüpfung von cauſaler mit teleologiſcher Be- trachtung als in Bezug auf den Realismus, der nur Indivi- duen und was ihrer Entwicklung dient anerkennt. An dieſem Punkte hat Lotze doch über Herder hinausgehen zu müſſen ge- glaubt. Er thut das indem er ſozuſagen die Methode, in welcher Kant den Glauben an Gott und die Unſterblichkeit begründete, auf den planvollen Zuſammenhang der Geſchichte anwendet und ſo als Bedingung deſſelben einen Antheil der Abgeſchiednen an dem Fortſchritt der Geſchichte aufzu- zeigen ſucht. „Keine Erziehung der Menſchheit iſt denkbar, ohne 1) Ideen, Buch 14, 6: „Die Philoſophie der Endzwecke hat der Natur- geſchichte keinen Vortheil gebracht, ſondern ihre Liebhaber vielmehr ſtatt der Unterſuchung mit ſcheinbarem Wahne befriedigt; wie viel mehr die tauſendzweckige, in einander greifende Menſchengeſchichte.“ Dilthey, Einleitung. 9

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/152>, abgerufen am 24.11.2024.