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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner
Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in
Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin
liefert? Nicht Anders! Eben die Bahn, auf welcher das Ge-
schlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne
Mensch erst durchlaufen haben" 1).

Herder verhält sich realistischer, kritischer als beide. Ob
er gleich sein Werk als Ideen zu einer Philosophie der Geschichte
bezeichnete, so hat er doch den Ausdruck, dessen sich schon
Voltaire bedient, in anderem Verstande genommen und eine
Formel über den Sinn der Geschichte nicht aufgestellt. Seine
große und bleibende Leistung entsprang aus einer Combination der
positiven Wissenschaften in philosophischem d. h. zusammenfassen-
dem Geiste. Mit dem Griff des Genie's verband er die Natur-
kunde jener Zeit mit dem Gedanken einer Universalgeschichte, wie
er vor dem Geiste eines Turgot stand, von Voltaire aufgefaßt, in
Deutschland aber von Schlözer in seiner merkwürdigen "Vorstellung
der Universalhistorie" aufgenommen worden war. Vermöge dieser
Verbindung erwuchsen aus den schon im Alterthum werthgehaltenen
Beobachtungen über den Zusammenhang der Naturbedingungen mit
dem geschichtlichen Leben nun jene leitenden Ideen, die Ritters allge-
meiner Geographie zu Grunde liegen. Er verknüpfte weiter mit Be-
trachtungen über die aufsteigende Reihe der Organisationen bis zum
Menschen, die er mit Goethe theilte und die auf die Naturphilosophie
gewirkt haben, einen Schluß der Analogie auf höhere Stufen des
geistigen Reiches und von diesen auf Unsterblichkeit: an diesem Schluß
hat schon Kant getadelt, daß er höchstens auf die Existenz andrer
höherer Wesen deuten könne. Von diesem Punkte ab jedoch ist seine
Arbeit wesentlich die des Universalhistorikers. Im Zusammenwirken
der beiden Faktoren der Naturbedingungen und des Menschen-

1) Lessing, Erziehung des Menschen § 92, 93. Für meine nähere An-
sicht über den Zusammenhang der Seelenwanderungslehre mit Lessings System
verweise ich auf meine Untersuchungen in: Lessing, preuß. Jahrbücher 1867,
nebst den Erörterungen von Const. Rößler ebendaselbst, und meiner Ent-
gegnung.

Erſtes einleitendes Buch.
wäre, daß das große langſame Rad, welches das Geſchlecht ſeiner
Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere ſchnellere Räder in
Bewegung geſetzt würde, deren jedes ſein Einzelnes eben dahin
liefert? Nicht Anders! Eben die Bahn, auf welcher das Ge-
ſchlecht zu ſeiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne
Menſch erſt durchlaufen haben“ 1).

Herder verhält ſich realiſtiſcher, kritiſcher als beide. Ob
er gleich ſein Werk als Ideen zu einer Philoſophie der Geſchichte
bezeichnete, ſo hat er doch den Ausdruck, deſſen ſich ſchon
Voltaire bedient, in anderem Verſtande genommen und eine
Formel über den Sinn der Geſchichte nicht aufgeſtellt. Seine
große und bleibende Leiſtung entſprang aus einer Combination der
poſitiven Wiſſenſchaften in philoſophiſchem d. h. zuſammenfaſſen-
dem Geiſte. Mit dem Griff des Genie’s verband er die Natur-
kunde jener Zeit mit dem Gedanken einer Univerſalgeſchichte, wie
er vor dem Geiſte eines Turgot ſtand, von Voltaire aufgefaßt, in
Deutſchland aber von Schlözer in ſeiner merkwürdigen „Vorſtellung
der Univerſalhiſtorie“ aufgenommen worden war. Vermöge dieſer
Verbindung erwuchſen aus den ſchon im Alterthum werthgehaltenen
Beobachtungen über den Zuſammenhang der Naturbedingungen mit
dem geſchichtlichen Leben nun jene leitenden Ideen, die Ritters allge-
meiner Geographie zu Grunde liegen. Er verknüpfte weiter mit Be-
trachtungen über die aufſteigende Reihe der Organiſationen bis zum
Menſchen, die er mit Goethe theilte und die auf die Naturphiloſophie
gewirkt haben, einen Schluß der Analogie auf höhere Stufen des
geiſtigen Reiches und von dieſen auf Unſterblichkeit: an dieſem Schluß
hat ſchon Kant getadelt, daß er höchſtens auf die Exiſtenz andrer
höherer Weſen deuten könne. Von dieſem Punkte ab jedoch iſt ſeine
Arbeit weſentlich die des Univerſalhiſtorikers. Im Zuſammenwirken
der beiden Faktoren der Naturbedingungen und des Menſchen-

1) Leſſing, Erziehung des Menſchen § 92, 93. Für meine nähere An-
ſicht über den Zuſammenhang der Seelenwanderungslehre mit Leſſings Syſtem
verweiſe ich auf meine Unterſuchungen in: Leſſing, preuß. Jahrbücher 1867,
nebſt den Erörterungen von Conſt. Rößler ebendaſelbſt, und meiner Ent-
gegnung.
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[128/0151] Erſtes einleitendes Buch. wäre, daß das große langſame Rad, welches das Geſchlecht ſeiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere ſchnellere Räder in Bewegung geſetzt würde, deren jedes ſein Einzelnes eben dahin liefert? Nicht Anders! Eben die Bahn, auf welcher das Ge- ſchlecht zu ſeiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Menſch erſt durchlaufen haben“ 1). Herder verhält ſich realiſtiſcher, kritiſcher als beide. Ob er gleich ſein Werk als Ideen zu einer Philoſophie der Geſchichte bezeichnete, ſo hat er doch den Ausdruck, deſſen ſich ſchon Voltaire bedient, in anderem Verſtande genommen und eine Formel über den Sinn der Geſchichte nicht aufgeſtellt. Seine große und bleibende Leiſtung entſprang aus einer Combination der poſitiven Wiſſenſchaften in philoſophiſchem d. h. zuſammenfaſſen- dem Geiſte. Mit dem Griff des Genie’s verband er die Natur- kunde jener Zeit mit dem Gedanken einer Univerſalgeſchichte, wie er vor dem Geiſte eines Turgot ſtand, von Voltaire aufgefaßt, in Deutſchland aber von Schlözer in ſeiner merkwürdigen „Vorſtellung der Univerſalhiſtorie“ aufgenommen worden war. Vermöge dieſer Verbindung erwuchſen aus den ſchon im Alterthum werthgehaltenen Beobachtungen über den Zuſammenhang der Naturbedingungen mit dem geſchichtlichen Leben nun jene leitenden Ideen, die Ritters allge- meiner Geographie zu Grunde liegen. Er verknüpfte weiter mit Be- trachtungen über die aufſteigende Reihe der Organiſationen bis zum Menſchen, die er mit Goethe theilte und die auf die Naturphiloſophie gewirkt haben, einen Schluß der Analogie auf höhere Stufen des geiſtigen Reiches und von dieſen auf Unſterblichkeit: an dieſem Schluß hat ſchon Kant getadelt, daß er höchſtens auf die Exiſtenz andrer höherer Weſen deuten könne. Von dieſem Punkte ab jedoch iſt ſeine Arbeit weſentlich die des Univerſalhiſtorikers. Im Zuſammenwirken der beiden Faktoren der Naturbedingungen und des Menſchen- 1) Leſſing, Erziehung des Menſchen § 92, 93. Für meine nähere An- ſicht über den Zuſammenhang der Seelenwanderungslehre mit Leſſings Syſtem verweiſe ich auf meine Unterſuchungen in: Leſſing, preuß. Jahrbücher 1867, nebſt den Erörterungen von Conſt. Rößler ebendaſelbſt, und meiner Ent- gegnung.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/151>, abgerufen am 22.11.2024.