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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
das Geschichte uns aufgiebt, wie das Mittel des Fortschreitens in ihr
in letzter Instanz die aufopfernde Hingebung des Individuums ist,
an Personen die es liebt, an den Zweckzusammenhang eines Systems
der Cultur, welchem sein innerer Beruf eingeordnet ist, an das
Gesammtleben der Verbände, als deren Glied es sich fühlt, ja an
eine ihm unbekannte Zukunft, der seine Arbeit dient: Sittlichkeit
also; denn diese hat eben kein anderes Merkmal als Selbstauf-
opferung. Aber die Formeln vom Zusammenhang des Einzelnen
mit dem geschichtlichen Ganzen, wahr in dem was sie vom per-
sönlichen Gefühle dieses Zusammenhangs aussagen, treten in
Widerspruch mit jedem gesunden Empfinden, indem sie alle Werthe
des Lebens in eine metaphysische Einheit, welche sich in der Ge-
schichte entfaltet, versenken. Was ein Mensch in seiner einsamen
Seele, mit dem Schicksal ringend, in der Tiefe seines Gewissens
durchlebt, das ist für ihn da, nicht für den Weltproceß und nicht
für irgend einen Organismus der menschlichen Gesellschaft. Aber
dieser Metaphysik ist die ergreifende Wirklichkeit des Lebens nur
in einem Schattenriß sichtbar.

Auch ändert es hieran nichts, wenn, sozusagen in einer
weiteren Verflüchtigung, dieser allgemeinen Vernunft die Gesell-
schaft
als eine Einheit substituirt wird. Das Band, das sie zur
Einheit macht, aus dem Erlebniß in eine Formel umgewandelt,
ist ein metaphysisches. Es war daher nicht eine willkürliche
Wendung im Geiste Comte's, die aus den Begebenheiten seines
Lebens oder gar aus dem Verfall seiner Intelligenz hervorge-
gangen wäre, sondern ein Schicksal, das in dem ursprünglichen
Widerspruch zwischen seiner Formel des einheitlichen Zusammen-
hangs in der Geschichte sowie der in ihr gegründeten Tendenz auf
Organisation der Gesellschaft vermittelst einer geistigen Macht und
seiner positiven Methode gelegen war, wenn er von seiner philo-
sophie positive
und ihrer Methode zu einer Art von Religion als
Grundlage der künftigen Gesellschaft fortschritt. Der Zwiespalt
seiner Anhänger, der hierüber entstand, verdeutlicht nur diesen
Widerspruch eines Systems, welches aus den Gesetzen des Natur-

Erſtes einleitendes Buch.
das Geſchichte uns aufgiebt, wie das Mittel des Fortſchreitens in ihr
in letzter Inſtanz die aufopfernde Hingebung des Individuums iſt,
an Perſonen die es liebt, an den Zweckzuſammenhang eines Syſtems
der Cultur, welchem ſein innerer Beruf eingeordnet iſt, an das
Geſammtleben der Verbände, als deren Glied es ſich fühlt, ja an
eine ihm unbekannte Zukunft, der ſeine Arbeit dient: Sittlichkeit
alſo; denn dieſe hat eben kein anderes Merkmal als Selbſtauf-
opferung. Aber die Formeln vom Zuſammenhang des Einzelnen
mit dem geſchichtlichen Ganzen, wahr in dem was ſie vom per-
ſönlichen Gefühle dieſes Zuſammenhangs ausſagen, treten in
Widerſpruch mit jedem geſunden Empfinden, indem ſie alle Werthe
des Lebens in eine metaphyſiſche Einheit, welche ſich in der Ge-
ſchichte entfaltet, verſenken. Was ein Menſch in ſeiner einſamen
Seele, mit dem Schickſal ringend, in der Tiefe ſeines Gewiſſens
durchlebt, das iſt für ihn da, nicht für den Weltproceß und nicht
für irgend einen Organismus der menſchlichen Geſellſchaft. Aber
dieſer Metaphyſik iſt die ergreifende Wirklichkeit des Lebens nur
in einem Schattenriß ſichtbar.

Auch ändert es hieran nichts, wenn, ſozuſagen in einer
weiteren Verflüchtigung, dieſer allgemeinen Vernunft die Geſell-
ſchaft
als eine Einheit ſubſtituirt wird. Das Band, das ſie zur
Einheit macht, aus dem Erlebniß in eine Formel umgewandelt,
iſt ein metaphyſiſches. Es war daher nicht eine willkürliche
Wendung im Geiſte Comte’s, die aus den Begebenheiten ſeines
Lebens oder gar aus dem Verfall ſeiner Intelligenz hervorge-
gangen wäre, ſondern ein Schickſal, das in dem urſprünglichen
Widerſpruch zwiſchen ſeiner Formel des einheitlichen Zuſammen-
hangs in der Geſchichte ſowie der in ihr gegründeten Tendenz auf
Organiſation der Geſellſchaft vermittelſt einer geiſtigen Macht und
ſeiner poſitiven Methode gelegen war, wenn er von ſeiner philo-
sophie positive
und ihrer Methode zu einer Art von Religion als
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[126/0149] Erſtes einleitendes Buch. das Geſchichte uns aufgiebt, wie das Mittel des Fortſchreitens in ihr in letzter Inſtanz die aufopfernde Hingebung des Individuums iſt, an Perſonen die es liebt, an den Zweckzuſammenhang eines Syſtems der Cultur, welchem ſein innerer Beruf eingeordnet iſt, an das Geſammtleben der Verbände, als deren Glied es ſich fühlt, ja an eine ihm unbekannte Zukunft, der ſeine Arbeit dient: Sittlichkeit alſo; denn dieſe hat eben kein anderes Merkmal als Selbſtauf- opferung. Aber die Formeln vom Zuſammenhang des Einzelnen mit dem geſchichtlichen Ganzen, wahr in dem was ſie vom per- ſönlichen Gefühle dieſes Zuſammenhangs ausſagen, treten in Widerſpruch mit jedem geſunden Empfinden, indem ſie alle Werthe des Lebens in eine metaphyſiſche Einheit, welche ſich in der Ge- ſchichte entfaltet, verſenken. Was ein Menſch in ſeiner einſamen Seele, mit dem Schickſal ringend, in der Tiefe ſeines Gewiſſens durchlebt, das iſt für ihn da, nicht für den Weltproceß und nicht für irgend einen Organismus der menſchlichen Geſellſchaft. Aber dieſer Metaphyſik iſt die ergreifende Wirklichkeit des Lebens nur in einem Schattenriß ſichtbar. Auch ändert es hieran nichts, wenn, ſozuſagen in einer weiteren Verflüchtigung, dieſer allgemeinen Vernunft die Geſell- ſchaft als eine Einheit ſubſtituirt wird. Das Band, das ſie zur Einheit macht, aus dem Erlebniß in eine Formel umgewandelt, iſt ein metaphyſiſches. Es war daher nicht eine willkürliche Wendung im Geiſte Comte’s, die aus den Begebenheiten ſeines Lebens oder gar aus dem Verfall ſeiner Intelligenz hervorge- gangen wäre, ſondern ein Schickſal, das in dem urſprünglichen Widerſpruch zwiſchen ſeiner Formel des einheitlichen Zuſammen- hangs in der Geſchichte ſowie der in ihr gegründeten Tendenz auf Organiſation der Geſellſchaft vermittelſt einer geiſtigen Macht und ſeiner poſitiven Methode gelegen war, wenn er von ſeiner philo- sophie positive und ihrer Methode zu einer Art von Religion als Grundlage der künftigen Geſellſchaft fortſchritt. Der Zwieſpalt ſeiner Anhänger, der hierüber entſtand, verdeutlicht nur dieſen Widerſpruch eines Syſtems, welches aus den Geſetzen des Natur-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/149>, abgerufen am 22.11.2024.