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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
die allgemeine Metaphysik des Mittelalters entwickelt hat, eine
Grundlage von strengerer metaphysischer Haltung; in der Aus-
gestaltung der Papstkirche und ihrem Kampf mit dem Kaiserthum
erhielt sie eine gewaltige Actualität und einleuchtende Gegenwärtig-
keit; in der kanonistischen Theorie von der rechtlichen Natur dieses
mystischen Körpers gelangte sie zu den einschneidendsten Folgerungen
für die Auffassung der äußeren Organisation der Gesellschaft. Die
harten Realitäten, mit denen sie operirt, gestatten, so lange sie in
Geltung bleiben, keinem der Zweifel Eingang, die sonst jeden Versuch
den Sinn der Geschichte in einem formelhaften Zusammenhang aus-
zudrücken belasten. Niemand kann fragen, warum das mühsame Auf-
wärtsklimmen der Menschheit nothwendig war, da der Sündenfall
vor seinen Augen liegt. Niemand kann fragen, warum der Segen der
Geschichte nur einer Minderheit zu Gute komme, da der Rath-
schluß Gottes und der böse Wille die Antwort in der einen oder
anderen Wendung in sich schließen. Auch kann der Zusammen-
hang dieser Geschichte, vermöge deren der Weltlauf einen einheit-
lichen Sinn hat und die Menschheit eine reale Einheit ist, von
Niemandem in Frage gestellt werden: da nach der massiven Vor-
stellung des Traditionalismus (verstärkt durch die Auffassung der
Zeugung als eines Actes der bösen Lust) das verderbte Blut
Adams jedes Element dieses Ganzen durchströmt und mit seiner
dunkelen Farbe tingirt, und da andrerseits in dem mystischen
Körper der Kirche von oben her eine eben solche reale Leitung der
Gnade stattfindet. -- Die Literatur, welche in den Grundlinien, die
Augustin gezogen, verharrt, erstreckt sich bis auf Bossuets Dis-
cours sur l'histoire universelle,
und indem der Bischof von
Meaux eine strengere Vorstellung von Causalzusammenhang sowie
einen Begriff von nationalem Gesammtgeist einfügt, bildet er
das Zwischenglied zwischen dieser theologischen Philosophie der
Geschichte und den Versuchen des 18. Jahrhunderts. Turgot's
Plan einer Universalgeschichte entfaltete sich an dem Gedanken, die
von Bossuet behandelte Aufgabe rational zu lösen: er hat die
Philosophie der Geschichte secularisirt. Vico's principj di scienza
nuova
lassen die äußeren Umrisse der theologischen Philosophie

Erſtes einleitendes Buch.
die allgemeine Metaphyſik des Mittelalters entwickelt hat, eine
Grundlage von ſtrengerer metaphyſiſcher Haltung; in der Aus-
geſtaltung der Papſtkirche und ihrem Kampf mit dem Kaiſerthum
erhielt ſie eine gewaltige Actualität und einleuchtende Gegenwärtig-
keit; in der kanoniſtiſchen Theorie von der rechtlichen Natur dieſes
myſtiſchen Körpers gelangte ſie zu den einſchneidendſten Folgerungen
für die Auffaſſung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die
harten Realitäten, mit denen ſie operirt, geſtatten, ſo lange ſie in
Geltung bleiben, keinem der Zweifel Eingang, die ſonſt jeden Verſuch
den Sinn der Geſchichte in einem formelhaften Zuſammenhang aus-
zudrücken belaſten. Niemand kann fragen, warum das mühſame Auf-
wärtsklimmen der Menſchheit nothwendig war, da der Sündenfall
vor ſeinen Augen liegt. Niemand kann fragen, warum der Segen der
Geſchichte nur einer Minderheit zu Gute komme, da der Rath-
ſchluß Gottes und der böſe Wille die Antwort in der einen oder
anderen Wendung in ſich ſchließen. Auch kann der Zuſammen-
hang dieſer Geſchichte, vermöge deren der Weltlauf einen einheit-
lichen Sinn hat und die Menſchheit eine reale Einheit iſt, von
Niemandem in Frage geſtellt werden: da nach der maſſiven Vor-
ſtellung des Traditionalismus (verſtärkt durch die Auffaſſung der
Zeugung als eines Actes der böſen Luſt) das verderbte Blut
Adams jedes Element dieſes Ganzen durchſtrömt und mit ſeiner
dunkelen Farbe tingirt, und da andrerſeits in dem myſtiſchen
Körper der Kirche von oben her eine eben ſolche reale Leitung der
Gnade ſtattfindet. — Die Literatur, welche in den Grundlinien, die
Auguſtin gezogen, verharrt, erſtreckt ſich bis auf Boſſuets Dis-
cours sur l’histoire universelle,
und indem der Biſchof von
Meaux eine ſtrengere Vorſtellung von Cauſalzuſammenhang ſowie
einen Begriff von nationalem Geſammtgeiſt einfügt, bildet er
das Zwiſchenglied zwiſchen dieſer theologiſchen Philoſophie der
Geſchichte und den Verſuchen des 18. Jahrhunderts. Turgot’s
Plan einer Univerſalgeſchichte entfaltete ſich an dem Gedanken, die
von Boſſuet behandelte Aufgabe rational zu löſen: er hat die
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[124/0147] Erſtes einleitendes Buch. die allgemeine Metaphyſik des Mittelalters entwickelt hat, eine Grundlage von ſtrengerer metaphyſiſcher Haltung; in der Aus- geſtaltung der Papſtkirche und ihrem Kampf mit dem Kaiſerthum erhielt ſie eine gewaltige Actualität und einleuchtende Gegenwärtig- keit; in der kanoniſtiſchen Theorie von der rechtlichen Natur dieſes myſtiſchen Körpers gelangte ſie zu den einſchneidendſten Folgerungen für die Auffaſſung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die harten Realitäten, mit denen ſie operirt, geſtatten, ſo lange ſie in Geltung bleiben, keinem der Zweifel Eingang, die ſonſt jeden Verſuch den Sinn der Geſchichte in einem formelhaften Zuſammenhang aus- zudrücken belaſten. Niemand kann fragen, warum das mühſame Auf- wärtsklimmen der Menſchheit nothwendig war, da der Sündenfall vor ſeinen Augen liegt. Niemand kann fragen, warum der Segen der Geſchichte nur einer Minderheit zu Gute komme, da der Rath- ſchluß Gottes und der böſe Wille die Antwort in der einen oder anderen Wendung in ſich ſchließen. Auch kann der Zuſammen- hang dieſer Geſchichte, vermöge deren der Weltlauf einen einheit- lichen Sinn hat und die Menſchheit eine reale Einheit iſt, von Niemandem in Frage geſtellt werden: da nach der maſſiven Vor- ſtellung des Traditionalismus (verſtärkt durch die Auffaſſung der Zeugung als eines Actes der böſen Luſt) das verderbte Blut Adams jedes Element dieſes Ganzen durchſtrömt und mit ſeiner dunkelen Farbe tingirt, und da andrerſeits in dem myſtiſchen Körper der Kirche von oben her eine eben ſolche reale Leitung der Gnade ſtattfindet. — Die Literatur, welche in den Grundlinien, die Auguſtin gezogen, verharrt, erſtreckt ſich bis auf Boſſuets Dis- cours sur l’histoire universelle, und indem der Biſchof von Meaux eine ſtrengere Vorſtellung von Cauſalzuſammenhang ſowie einen Begriff von nationalem Geſammtgeiſt einfügt, bildet er das Zwiſchenglied zwiſchen dieſer theologiſchen Philoſophie der Geſchichte und den Verſuchen des 18. Jahrhunderts. Turgot’s Plan einer Univerſalgeſchichte entfaltete ſich an dem Gedanken, die von Boſſuet behandelte Aufgabe rational zu löſen: er hat die Philoſophie der Geſchichte ſeculariſirt. Vico’s principj di scienza nuova laſſen die äußeren Umriſſe der theologiſchen Philoſophie

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/147>, abgerufen am 23.11.2024.