Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an sich, sondernimmer nur in seiner Beziehung zu einem System von Energien Werth haben. Hieraus ergiebt sich weiter: naturgemäß finden wir, was im System unserer Energien als Werth empfunden, als Regel dem Willen vorgestellt wird, im geschichtlichen Weltlauf als den werth- und sinnvollen Gehalt desselben wieder; jede Formel, in der wir den Sinn der Geschichte ausdrücken, ist nur ein Reflex unseres eigenen belebten Inneren; selbst die Macht, welche der Be- griff von Fortschritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines Zieles, als in der Selbsterfahrung unseres ringenden Willens, unserer Lebensarbeit und des frohen Bewußtseins von Energie in ihr: welche Selbsterfahrung sich in dem Bilde eines allge- meinen Fortschreitens auch dann projiciren würde, wenn in der Wirklichkeit des geschichtlichen Weltlaufs ein solcher Fortschritt sich keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf diesem That- bestand das unvertilgbare Gefühl von dem Werth und Sinn des geschichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftsteller wie Herder ist mit seiner Allgemeinvorstellung der Humanität niemals über das verworrene Bewußtsein dieses Reichthums des Menschendaseins, dieser Fülle seiner freudigen Entfaltungen hinaus gegangen. Hieraus aber würde Philosophie der Geschichte, noch weiter in der Selbstbesinnung fortschreitend, haben folgern müssen: aus einer un- ermeßlichen Mannichfaltigkeit einzelner Werthe baut sich der Sinn der geschichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derselben Mannichfaltig- keit von Wechselwirkungen sein Causalzusammenhang. Der Sinn der Geschichte ist also ein außerordentlich Zusammengesetztes. So hätte auch hier wieder dieselbe Aufgabe sich ergeben, Selbstbesinnung, welche im Gemüthsleben den Ursprung von Werth und Regel und ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforscht, und allmälige, langsame Analysis, welche diese Seite des verwickelten geschichtlichen Ganzen zerlegt. Denn was dem Menschen werthvoll sei und welche Regeln das Thun der Gesellschaft leiten sollen, das kann nur mit Hilfe der geschichtlichen Forschung mit irgend einer Aus- sicht auf allgemeingültige Fassung untersucht werden. Und so stehen wir wieder vor demselben Grundverhältniß: die Philosophie Erſtes einleitendes Buch. haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an ſich, ſondernimmer nur in ſeiner Beziehung zu einem Syſtem von Energien Werth haben. Hieraus ergiebt ſich weiter: naturgemäß finden wir, was im Syſtem unſerer Energien als Werth empfunden, als Regel dem Willen vorgeſtellt wird, im geſchichtlichen Weltlauf als den werth- und ſinnvollen Gehalt deſſelben wieder; jede Formel, in der wir den Sinn der Geſchichte ausdrücken, iſt nur ein Reflex unſeres eigenen belebten Inneren; ſelbſt die Macht, welche der Be- griff von Fortſchritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines Zieles, als in der Selbſterfahrung unſeres ringenden Willens, unſerer Lebensarbeit und des frohen Bewußtſeins von Energie in ihr: welche Selbſterfahrung ſich in dem Bilde eines allge- meinen Fortſchreitens auch dann projiciren würde, wenn in der Wirklichkeit des geſchichtlichen Weltlaufs ein ſolcher Fortſchritt ſich keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf dieſem That- beſtand das unvertilgbare Gefühl von dem Werth und Sinn des geſchichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftſteller wie Herder iſt mit ſeiner Allgemeinvorſtellung der Humanität niemals über das verworrene Bewußtſein dieſes Reichthums des Menſchendaſeins, dieſer Fülle ſeiner freudigen Entfaltungen hinaus gegangen. Hieraus aber würde Philoſophie der Geſchichte, noch weiter in der Selbſtbeſinnung fortſchreitend, haben folgern müſſen: aus einer un- ermeßlichen Mannichfaltigkeit einzelner Werthe baut ſich der Sinn der geſchichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derſelben Mannichfaltig- keit von Wechſelwirkungen ſein Cauſalzuſammenhang. Der Sinn der Geſchichte iſt alſo ein außerordentlich Zuſammengeſetztes. So hätte auch hier wieder dieſelbe Aufgabe ſich ergeben, Selbſtbeſinnung, welche im Gemüthsleben den Urſprung von Werth und Regel und ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforſcht, und allmälige, langſame Analyſis, welche dieſe Seite des verwickelten geſchichtlichen Ganzen zerlegt. Denn was dem Menſchen werthvoll ſei und welche Regeln das Thun der Geſellſchaft leiten ſollen, das kann nur mit Hilfe der geſchichtlichen Forſchung mit irgend einer Aus- ſicht auf allgemeingültige Faſſung unterſucht werden. Und ſo ſtehen wir wieder vor demſelben Grundverhältniß: die Philoſophie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0145" n="122"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an ſich, ſondern<lb/> immer nur in ſeiner Beziehung zu einem Syſtem von Energien<lb/> Werth haben. Hieraus ergiebt ſich weiter: naturgemäß finden<lb/> wir, was im Syſtem unſerer Energien als Werth empfunden, als<lb/> Regel dem Willen vorgeſtellt wird, im geſchichtlichen Weltlauf als<lb/> den werth- und ſinnvollen Gehalt deſſelben wieder; jede Formel,<lb/> in der wir den Sinn der Geſchichte ausdrücken, iſt nur ein Reflex<lb/> unſeres eigenen belebten Inneren; ſelbſt die Macht, welche der Be-<lb/> griff von Fortſchritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines<lb/> Zieles, als in der Selbſterfahrung unſeres ringenden Willens,<lb/> unſerer Lebensarbeit und des frohen Bewußtſeins von Energie in<lb/> ihr: welche Selbſterfahrung ſich in dem Bilde eines allge-<lb/> meinen Fortſchreitens auch dann projiciren würde, wenn in der<lb/> Wirklichkeit des geſchichtlichen Weltlaufs ein ſolcher Fortſchritt ſich<lb/> keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf dieſem That-<lb/> beſtand das unvertilgbare Gefühl von dem Werth und Sinn<lb/> des geſchichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftſteller wie Herder<lb/> iſt mit ſeiner Allgemeinvorſtellung der Humanität niemals über<lb/> das verworrene Bewußtſein dieſes Reichthums des Menſchendaſeins,<lb/> dieſer Fülle ſeiner freudigen Entfaltungen hinaus gegangen. Hieraus<lb/> aber würde Philoſophie der Geſchichte, noch weiter in der<lb/> Selbſtbeſinnung fortſchreitend, haben folgern müſſen: aus einer un-<lb/> ermeßlichen Mannichfaltigkeit einzelner Werthe baut ſich der Sinn<lb/> der geſchichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derſelben Mannichfaltig-<lb/> keit von Wechſelwirkungen ſein Cauſalzuſammenhang. Der Sinn<lb/> der Geſchichte iſt alſo ein außerordentlich Zuſammengeſetztes. So<lb/> hätte auch hier wieder dieſelbe Aufgabe ſich ergeben, Selbſtbeſinnung,<lb/> welche im Gemüthsleben den Urſprung von Werth und Regel und<lb/> ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforſcht, und allmälige,<lb/> langſame Analyſis, welche dieſe Seite des verwickelten geſchichtlichen<lb/> Ganzen zerlegt. Denn was dem Menſchen werthvoll ſei und<lb/> welche Regeln das Thun der Geſellſchaft leiten ſollen, das kann<lb/> nur mit Hilfe der geſchichtlichen Forſchung mit irgend einer Aus-<lb/> ſicht auf allgemeingültige Faſſung unterſucht werden. Und ſo<lb/> ſtehen wir wieder vor demſelben Grundverhältniß: die Philoſophie<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [122/0145]
Erſtes einleitendes Buch.
haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an ſich, ſondern
immer nur in ſeiner Beziehung zu einem Syſtem von Energien
Werth haben. Hieraus ergiebt ſich weiter: naturgemäß finden
wir, was im Syſtem unſerer Energien als Werth empfunden, als
Regel dem Willen vorgeſtellt wird, im geſchichtlichen Weltlauf als
den werth- und ſinnvollen Gehalt deſſelben wieder; jede Formel,
in der wir den Sinn der Geſchichte ausdrücken, iſt nur ein Reflex
unſeres eigenen belebten Inneren; ſelbſt die Macht, welche der Be-
griff von Fortſchritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines
Zieles, als in der Selbſterfahrung unſeres ringenden Willens,
unſerer Lebensarbeit und des frohen Bewußtſeins von Energie in
ihr: welche Selbſterfahrung ſich in dem Bilde eines allge-
meinen Fortſchreitens auch dann projiciren würde, wenn in der
Wirklichkeit des geſchichtlichen Weltlaufs ein ſolcher Fortſchritt ſich
keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf dieſem That-
beſtand das unvertilgbare Gefühl von dem Werth und Sinn
des geſchichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftſteller wie Herder
iſt mit ſeiner Allgemeinvorſtellung der Humanität niemals über
das verworrene Bewußtſein dieſes Reichthums des Menſchendaſeins,
dieſer Fülle ſeiner freudigen Entfaltungen hinaus gegangen. Hieraus
aber würde Philoſophie der Geſchichte, noch weiter in der
Selbſtbeſinnung fortſchreitend, haben folgern müſſen: aus einer un-
ermeßlichen Mannichfaltigkeit einzelner Werthe baut ſich der Sinn
der geſchichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derſelben Mannichfaltig-
keit von Wechſelwirkungen ſein Cauſalzuſammenhang. Der Sinn
der Geſchichte iſt alſo ein außerordentlich Zuſammengeſetztes. So
hätte auch hier wieder dieſelbe Aufgabe ſich ergeben, Selbſtbeſinnung,
welche im Gemüthsleben den Urſprung von Werth und Regel und
ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforſcht, und allmälige,
langſame Analyſis, welche dieſe Seite des verwickelten geſchichtlichen
Ganzen zerlegt. Denn was dem Menſchen werthvoll ſei und
welche Regeln das Thun der Geſellſchaft leiten ſollen, das kann
nur mit Hilfe der geſchichtlichen Forſchung mit irgend einer Aus-
ſicht auf allgemeingültige Faſſung unterſucht werden. Und ſo
ſtehen wir wieder vor demſelben Grundverhältniß: die Philoſophie
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |