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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Relat. Erkenntniß d. Zusammenh. d. d. fortschr. Geschichtswissenschaft.
hier nur von der französischen Schule derselben) steigert noch
diesen Anspruch der Erkenntniß, indem sie vermöge der Erfassung
dieses Zusammenhangs eine wissenschaftliche Leitung der Gesellschaft
herbeizuführen hofft.

Nun ging uns aus der Vertiefung in den Zusammenhang der
Einzelwissenschaften des Geistes die folgende Einsicht hervor. In
diesen Wissenschaften hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine
Zerlegung des Gesammtproblems der geschichtlich-gesellschaftlichen
Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht; in denselben sind diese
Einzelprobleme einer streng wissenschaftlichen Behandlung unter-
worfen worden; der in ihnen durch diese beharrliche Arbeit ge-
schaffene Kern von wirklicher Erkenntniß ist in langsamem,
aber beständigem Wachsthum begriffen. -- Wol ist nothwendig,
daß diese Wissenschaften sich des Verhältnisses ihrer Wahrheiten
zu der Wirklichkeit, von welcher sie doch nur Theilinhalte darstellen,
folgerecht der Beziehungen, in welchen sie zu den aus derselben
Wirklichkeit durch Abstraktion ausgesonderten anderen Wissenschaften
stehen, bewußt werden; gerade dieß ist das Bedürfniß, daß aus
der Natur der Aufgabe, welche diese Wirklichkeit dem menschlichen
Wissen und Erkennen stellt, die Kunstgriffe, vermöge deren das-
selbe sich in sie eingräbt, sie zerspaltet, zersetzt, verstanden werden;
was das Erkennen mit seinen Werkzeugen bewältigen kann, was
als unzersetzbare Thatsache widersteht und zurückbleibt, das muß
sich hier zeigen: kurz einer Erkenntnißtheorie der Geisteswissen-
schaften, oder tiefer: der Selbstbesinnung bedarf es, welche den
Begriffen und Sätzen derselben ihr Verhältniß zur Wirklichkeit, ihre
Evidenz, ihr Verhältniß zu einander sichert. Sie vollendet erst
die echt wissenschaftliche Richtung dieser positiven Arbeiten auf
klar begränzte und in sich sichere Wahrheiten. Sie legt erst die
Grundlagen für das Zusammenwirken der Einzelwissenschaften in
der Richtung auf die Erkenntniß des Ganzen. -- Aber wie
solchergestalt diese Einzelwissenschaften, bewußter in sich geworden
durch eine solche Erkenntnißtheorie, ihres Werthes und ihrer
Grenzen sicher, ihre Beziehungen in ihre Rechnung aufnehmend,
nach allen Seiten voranschreiten: so sind sie die einzigen

Relat. Erkenntniß d. Zuſammenh. d. d. fortſchr. Geſchichtswiſſenſchaft.
hier nur von der franzöſiſchen Schule derſelben) ſteigert noch
dieſen Anſpruch der Erkenntniß, indem ſie vermöge der Erfaſſung
dieſes Zuſammenhangs eine wiſſenſchaftliche Leitung der Geſellſchaft
herbeizuführen hofft.

Nun ging uns aus der Vertiefung in den Zuſammenhang der
Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes die folgende Einſicht hervor. In
dieſen Wiſſenſchaften hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine
Zerlegung des Geſammtproblems der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht; in denſelben ſind dieſe
Einzelprobleme einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Behandlung unter-
worfen worden; der in ihnen durch dieſe beharrliche Arbeit ge-
ſchaffene Kern von wirklicher Erkenntniß iſt in langſamem,
aber beſtändigem Wachsthum begriffen. — Wol iſt nothwendig,
daß dieſe Wiſſenſchaften ſich des Verhältniſſes ihrer Wahrheiten
zu der Wirklichkeit, von welcher ſie doch nur Theilinhalte darſtellen,
folgerecht der Beziehungen, in welchen ſie zu den aus derſelben
Wirklichkeit durch Abſtraktion ausgeſonderten anderen Wiſſenſchaften
ſtehen, bewußt werden; gerade dieß iſt das Bedürfniß, daß aus
der Natur der Aufgabe, welche dieſe Wirklichkeit dem menſchlichen
Wiſſen und Erkennen ſtellt, die Kunſtgriffe, vermöge deren das-
ſelbe ſich in ſie eingräbt, ſie zerſpaltet, zerſetzt, verſtanden werden;
was das Erkennen mit ſeinen Werkzeugen bewältigen kann, was
als unzerſetzbare Thatſache widerſteht und zurückbleibt, das muß
ſich hier zeigen: kurz einer Erkenntnißtheorie der Geiſteswiſſen-
ſchaften, oder tiefer: der Selbſtbeſinnung bedarf es, welche den
Begriffen und Sätzen derſelben ihr Verhältniß zur Wirklichkeit, ihre
Evidenz, ihr Verhältniß zu einander ſichert. Sie vollendet erſt
die echt wiſſenſchaftliche Richtung dieſer poſitiven Arbeiten auf
klar begränzte und in ſich ſichere Wahrheiten. Sie legt erſt die
Grundlagen für das Zuſammenwirken der Einzelwiſſenſchaften in
der Richtung auf die Erkenntniß des Ganzen. — Aber wie
ſolchergeſtalt dieſe Einzelwiſſenſchaften, bewußter in ſich geworden
durch eine ſolche Erkenntnißtheorie, ihres Werthes und ihrer
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[117/0140] Relat. Erkenntniß d. Zuſammenh. d. d. fortſchr. Geſchichtswiſſenſchaft. hier nur von der franzöſiſchen Schule derſelben) ſteigert noch dieſen Anſpruch der Erkenntniß, indem ſie vermöge der Erfaſſung dieſes Zuſammenhangs eine wiſſenſchaftliche Leitung der Geſellſchaft herbeizuführen hofft. Nun ging uns aus der Vertiefung in den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes die folgende Einſicht hervor. In dieſen Wiſſenſchaften hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine Zerlegung des Geſammtproblems der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht; in denſelben ſind dieſe Einzelprobleme einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Behandlung unter- worfen worden; der in ihnen durch dieſe beharrliche Arbeit ge- ſchaffene Kern von wirklicher Erkenntniß iſt in langſamem, aber beſtändigem Wachsthum begriffen. — Wol iſt nothwendig, daß dieſe Wiſſenſchaften ſich des Verhältniſſes ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, von welcher ſie doch nur Theilinhalte darſtellen, folgerecht der Beziehungen, in welchen ſie zu den aus derſelben Wirklichkeit durch Abſtraktion ausgeſonderten anderen Wiſſenſchaften ſtehen, bewußt werden; gerade dieß iſt das Bedürfniß, daß aus der Natur der Aufgabe, welche dieſe Wirklichkeit dem menſchlichen Wiſſen und Erkennen ſtellt, die Kunſtgriffe, vermöge deren das- ſelbe ſich in ſie eingräbt, ſie zerſpaltet, zerſetzt, verſtanden werden; was das Erkennen mit ſeinen Werkzeugen bewältigen kann, was als unzerſetzbare Thatſache widerſteht und zurückbleibt, das muß ſich hier zeigen: kurz einer Erkenntnißtheorie der Geiſteswiſſen- ſchaften, oder tiefer: der Selbſtbeſinnung bedarf es, welche den Begriffen und Sätzen derſelben ihr Verhältniß zur Wirklichkeit, ihre Evidenz, ihr Verhältniß zu einander ſichert. Sie vollendet erſt die echt wiſſenſchaftliche Richtung dieſer poſitiven Arbeiten auf klar begränzte und in ſich ſichere Wahrheiten. Sie legt erſt die Grundlagen für das Zuſammenwirken der Einzelwiſſenſchaften in der Richtung auf die Erkenntniß des Ganzen. — Aber wie ſolchergeſtalt dieſe Einzelwiſſenſchaften, bewußter in ſich geworden durch eine ſolche Erkenntnißtheorie, ihres Werthes und ihrer Grenzen ſicher, ihre Beziehungen in ihre Rechnung aufnehmend, nach allen Seiten voranſchreiten: ſo ſind ſie die einzigen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/140>, abgerufen am 23.11.2024.