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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
trachtung heraushebt, liegt dies Urtheil zu Grunde. Wir können
nicht eine exakte Causalerkenntniß, welche die Beurtheilung aus-
schlösse, herstellen. Diese ist von der geschichtlichen Erkenntniß durch
keine Art von geistiger Chemie abzuscheiden, solange der Erkennende
ein ganzer Mensch ist. Und doch bilden andrerseits Beurtheilung,
Regel, wie sie in den Zusammenhang dieser Erkenntniß verwebt
sind, eine dritte selbständige Classe von Sätzen, die nicht aus den
beiden anderen abgeleitet werden kann. Dies trat uns schon am
Beginn dieses Ueberblicks entgegen. Nur in der psychologischen
Wurzel mag ein solcher Zusammenhang bestehen: zu dieser aber
dringt nur die über die Einzelwissenschaften hinausgehende Selbst-
besinnung.

Diese dreifache Verbindung jeder Einzeluntersuchung, jeder
Einzelwissenschaft mit dem Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen
Wirklichkeit und ihrer Erkenntniß kann an jedem anderen Punkte
nachgewiesen werden: Verbindung mit dem concreten Causalzu-
sammenhange aller Thatsachen und Veränderungen dieser Wirklich-
keit mit den allgemeinen Gesetzen, unter denen diese Wirklichkeit
steht, und mit dem System der Werthe und Imperative, das in dem
Verhältniß des Menschen zu dem Zusammenhang seiner Aufgaben
angelegt ist. Giebt es, so fragen wir nun genauer, eine Wissen-
schaft, welche diesen dreifachen die Einzelwissenschaften
überschreitenden Zusammenhang
erkennt, die Beziehungen
erfaßt, welche zwischen der geschichtlichen Thatsache, dem Gesetz und
der das Urtheil leitenden Regel bestehen?

Zwei Wissenschaften von stolzem Titel, die Philosophie
der Geschichte in Deutschland, die Sociologie in England und
Frankreich beanspruchen eine Erkenntniß dieser Art zu sein.

Der Ursprung der einen dieser Wissenschaften lag in dem
christlichen Gedanken eines inneren Zusammenhangs fortschreiten-
der Erziehung in der Geschichte der Menschheit. Clemens und
Augustinus bereiteten sie vor, Vico, Lessing, Herder, Humboldt,
Hegel führten sie aus. Unter dem mächtigen Antrieb, den sie
in dem christlichen Gedanken einer gemeinsamen Erziehung aller
Nationen durch die Vorsehung, eines sich so verwirklichenden Reiches

Erſtes einleitendes Buch.
trachtung heraushebt, liegt dies Urtheil zu Grunde. Wir können
nicht eine exakte Cauſalerkenntniß, welche die Beurtheilung aus-
ſchlöſſe, herſtellen. Dieſe iſt von der geſchichtlichen Erkenntniß durch
keine Art von geiſtiger Chemie abzuſcheiden, ſolange der Erkennende
ein ganzer Menſch iſt. Und doch bilden andrerſeits Beurtheilung,
Regel, wie ſie in den Zuſammenhang dieſer Erkenntniß verwebt
ſind, eine dritte ſelbſtändige Claſſe von Sätzen, die nicht aus den
beiden anderen abgeleitet werden kann. Dies trat uns ſchon am
Beginn dieſes Ueberblicks entgegen. Nur in der pſychologiſchen
Wurzel mag ein ſolcher Zuſammenhang beſtehen: zu dieſer aber
dringt nur die über die Einzelwiſſenſchaften hinausgehende Selbſt-
beſinnung.

Dieſe dreifache Verbindung jeder Einzelunterſuchung, jeder
Einzelwiſſenſchaft mit dem Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit und ihrer Erkenntniß kann an jedem anderen Punkte
nachgewieſen werden: Verbindung mit dem concreten Cauſalzu-
ſammenhange aller Thatſachen und Veränderungen dieſer Wirklich-
keit mit den allgemeinen Geſetzen, unter denen dieſe Wirklichkeit
ſteht, und mit dem Syſtem der Werthe und Imperative, das in dem
Verhältniß des Menſchen zu dem Zuſammenhang ſeiner Aufgaben
angelegt iſt. Giebt es, ſo fragen wir nun genauer, eine Wiſſen-
ſchaft, welche dieſen dreifachen die Einzelwiſſenſchaften
überſchreitenden Zuſammenhang
erkennt, die Beziehungen
erfaßt, welche zwiſchen der geſchichtlichen Thatſache, dem Geſetz und
der das Urtheil leitenden Regel beſtehen?

Zwei Wiſſenſchaften von ſtolzem Titel, die Philoſophie
der Geſchichte in Deutſchland, die Sociologie in England und
Frankreich beanſpruchen eine Erkenntniß dieſer Art zu ſein.

Der Urſprung der einen dieſer Wiſſenſchaften lag in dem
chriſtlichen Gedanken eines inneren Zuſammenhangs fortſchreiten-
der Erziehung in der Geſchichte der Menſchheit. Clemens und
Auguſtinus bereiteten ſie vor, Vico, Leſſing, Herder, Humboldt,
Hegel führten ſie aus. Unter dem mächtigen Antrieb, den ſie
in dem chriſtlichen Gedanken einer gemeinſamen Erziehung aller
Nationen durch die Vorſehung, eines ſich ſo verwirklichenden Reiches

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[112/0135] Erſtes einleitendes Buch. trachtung heraushebt, liegt dies Urtheil zu Grunde. Wir können nicht eine exakte Cauſalerkenntniß, welche die Beurtheilung aus- ſchlöſſe, herſtellen. Dieſe iſt von der geſchichtlichen Erkenntniß durch keine Art von geiſtiger Chemie abzuſcheiden, ſolange der Erkennende ein ganzer Menſch iſt. Und doch bilden andrerſeits Beurtheilung, Regel, wie ſie in den Zuſammenhang dieſer Erkenntniß verwebt ſind, eine dritte ſelbſtändige Claſſe von Sätzen, die nicht aus den beiden anderen abgeleitet werden kann. Dies trat uns ſchon am Beginn dieſes Ueberblicks entgegen. Nur in der pſychologiſchen Wurzel mag ein ſolcher Zuſammenhang beſtehen: zu dieſer aber dringt nur die über die Einzelwiſſenſchaften hinausgehende Selbſt- beſinnung. Dieſe dreifache Verbindung jeder Einzelunterſuchung, jeder Einzelwiſſenſchaft mit dem Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit und ihrer Erkenntniß kann an jedem anderen Punkte nachgewieſen werden: Verbindung mit dem concreten Cauſalzu- ſammenhange aller Thatſachen und Veränderungen dieſer Wirklich- keit mit den allgemeinen Geſetzen, unter denen dieſe Wirklichkeit ſteht, und mit dem Syſtem der Werthe und Imperative, das in dem Verhältniß des Menſchen zu dem Zuſammenhang ſeiner Aufgaben angelegt iſt. Giebt es, ſo fragen wir nun genauer, eine Wiſſen- ſchaft, welche dieſen dreifachen die Einzelwiſſenſchaften überſchreitenden Zuſammenhang erkennt, die Beziehungen erfaßt, welche zwiſchen der geſchichtlichen Thatſache, dem Geſetz und der das Urtheil leitenden Regel beſtehen? Zwei Wiſſenſchaften von ſtolzem Titel, die Philoſophie der Geſchichte in Deutſchland, die Sociologie in England und Frankreich beanſpruchen eine Erkenntniß dieſer Art zu ſein. Der Urſprung der einen dieſer Wiſſenſchaften lag in dem chriſtlichen Gedanken eines inneren Zuſammenhangs fortſchreiten- der Erziehung in der Geſchichte der Menſchheit. Clemens und Auguſtinus bereiteten ſie vor, Vico, Leſſing, Herder, Humboldt, Hegel führten ſie aus. Unter dem mächtigen Antrieb, den ſie in dem chriſtlichen Gedanken einer gemeinſamen Erziehung aller Nationen durch die Vorſehung, eines ſich ſo verwirklichenden Reiches

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/135>, abgerufen am 23.11.2024.