Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Philosophie der Geschichte und Sociologie keine Wissenschaften. wirkung, die sich in ihren Trägern, den Individuen, kreuzen,gleichzeitig als Theilinhalte der Wirklichkeit, nicht als Abstraktionen, vorzustellen. Verschiedene Personen sind in jedem von uns, das Familienglied, der Bürger, der Berufsgenosse; wir finden uns im Zusammenhang sittlicher Verpflichtungen, in einer Rechtsordnung, in einem Zweckzusammenhang des Lebens, der auf Befriedigung gerichtet ist: nur in der Selbstbesinnung finden wir die Lebens- einheit und ihre Continuität in uns, welche alle diese Beziehungen trägt und hält. So hat auch die menschliche Gesellschaft ihr Leben in der Hervorbringung und Gestaltung, Besonderung und Ver- knüpfung dieser dauernden Thatbestände, ohne daß sie oder eines der sie mittragenden Individuen darum ein Bewußtsein von dem Zusammenhang derselben besäße. Welch ein Vorgang von Diffe- renzirung, in welchem das römische Recht die Privatrechtssphäre absonderte, die mittelalterliche Kirche der religiösen Sphäre zu voller Selbständigkeit verhalf! Von den Veranstaltungen ab, welche der Herrschaft des Menschen über die Natur dienen, bis zu den höchsten Gebilden der Religion und Kunst arbeitet so der Geist beständig an Scheidung, Gestaltung dieser Systeme, an der Entwicklung der äußeren Organisation der Gesellschaft. Ein Bild, nicht weniger erhaben als jedes, das Naturforschen von Entstehung und Bau des Kosmos entwerfen kann: während die Individuen kommen und gehen, ist doch jedes von ihnen Träger und Mitbildner an diesem ungeheuren Bau der geschichtlich-gesell- schaftlichen Wirklichkeit. Löst nun aber die Einzelwissenschaft diese dauernden Zustände Philoſophie der Geſchichte und Sociologie keine Wiſſenſchaften. wirkung, die ſich in ihren Trägern, den Individuen, kreuzen,gleichzeitig als Theilinhalte der Wirklichkeit, nicht als Abſtraktionen, vorzuſtellen. Verſchiedene Perſonen ſind in jedem von uns, das Familienglied, der Bürger, der Berufsgenoſſe; wir finden uns im Zuſammenhang ſittlicher Verpflichtungen, in einer Rechtsordnung, in einem Zweckzuſammenhang des Lebens, der auf Befriedigung gerichtet iſt: nur in der Selbſtbeſinnung finden wir die Lebens- einheit und ihre Continuität in uns, welche alle dieſe Beziehungen trägt und hält. So hat auch die menſchliche Geſellſchaft ihr Leben in der Hervorbringung und Geſtaltung, Beſonderung und Ver- knüpfung dieſer dauernden Thatbeſtände, ohne daß ſie oder eines der ſie mittragenden Individuen darum ein Bewußtſein von dem Zuſammenhang derſelben beſäße. Welch ein Vorgang von Diffe- renzirung, in welchem das römiſche Recht die Privatrechtsſphäre abſonderte, die mittelalterliche Kirche der religiöſen Sphäre zu voller Selbſtändigkeit verhalf! Von den Veranſtaltungen ab, welche der Herrſchaft des Menſchen über die Natur dienen, bis zu den höchſten Gebilden der Religion und Kunſt arbeitet ſo der Geiſt beſtändig an Scheidung, Geſtaltung dieſer Syſteme, an der Entwicklung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Ein Bild, nicht weniger erhaben als jedes, das Naturforſchen von Entſtehung und Bau des Kosmos entwerfen kann: während die Individuen kommen und gehen, iſt doch jedes von ihnen Träger und Mitbildner an dieſem ungeheuren Bau der geſchichtlich-geſell- ſchaftlichen Wirklichkeit. Löſt nun aber die Einzelwiſſenſchaft dieſe dauernden Zuſtände <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0132" n="109"/><fw place="top" type="header">Philoſophie der Geſchichte und Sociologie keine Wiſſenſchaften.</fw><lb/> wirkung, die ſich in ihren Trägern, den Individuen, kreuzen,<lb/> gleichzeitig als Theilinhalte der Wirklichkeit, nicht als Abſtraktionen,<lb/> vorzuſtellen. 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Dieſe Wirk-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [109/0132]
Philoſophie der Geſchichte und Sociologie keine Wiſſenſchaften.
wirkung, die ſich in ihren Trägern, den Individuen, kreuzen,
gleichzeitig als Theilinhalte der Wirklichkeit, nicht als Abſtraktionen,
vorzuſtellen. Verſchiedene Perſonen ſind in jedem von uns, das
Familienglied, der Bürger, der Berufsgenoſſe; wir finden uns im
Zuſammenhang ſittlicher Verpflichtungen, in einer Rechtsordnung,
in einem Zweckzuſammenhang des Lebens, der auf Befriedigung
gerichtet iſt: nur in der Selbſtbeſinnung finden wir die Lebens-
einheit und ihre Continuität in uns, welche alle dieſe Beziehungen
trägt und hält. So hat auch die menſchliche Geſellſchaft ihr Leben
in der Hervorbringung und Geſtaltung, Beſonderung und Ver-
knüpfung dieſer dauernden Thatbeſtände, ohne daß ſie oder eines
der ſie mittragenden Individuen darum ein Bewußtſein von dem
Zuſammenhang derſelben beſäße. Welch ein Vorgang von Diffe-
renzirung, in welchem das römiſche Recht die Privatrechtsſphäre
abſonderte, die mittelalterliche Kirche der religiöſen Sphäre zu
voller Selbſtändigkeit verhalf! Von den Veranſtaltungen ab,
welche der Herrſchaft des Menſchen über die Natur dienen, bis zu
den höchſten Gebilden der Religion und Kunſt arbeitet ſo der
Geiſt beſtändig an Scheidung, Geſtaltung dieſer Syſteme, an der
Entwicklung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Ein
Bild, nicht weniger erhaben als jedes, das Naturforſchen von
Entſtehung und Bau des Kosmos entwerfen kann: während die
Individuen kommen und gehen, iſt doch jedes von ihnen Träger
und Mitbildner an dieſem ungeheuren Bau der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit.
Löſt nun aber die Einzelwiſſenſchaft dieſe dauernden Zuſtände
aus dem raſtloſen, wirbelnden Spiel von Veränderungen los,
welches die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt erfüllt: ſo haben ſie
doch Entſtehung und Nahrung nur in dem gemeinſchaftlichen
Boden dieſer Wirklichkeit; ihr Leben verläuft in den Beziehungen
zu dem Ganzen, aus welchem ſie abſtrahirt ſind, zu den Indivi-
duen, welche ihre Träger und Bildner ſind, zu den anderen dauern-
den Geſtaltungen, welche die Geſellſchaft umfaßt. Das Problem
des Verhältniſſes der Leiſtungen dieſer Syſteme zu einander im
Haushalt der geſellſchaftlichen Wirklichkeit tritt hervor. Dieſe Wirk-
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