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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Tiefe gesehen. Hegel, Herbart, Krause wirkten in derselben
Richtung. Es kann nicht bestritten werden, daß man, von
dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortschreitend,
zwischen beiden ein weites Reich von Thatsachen antrifft, welche
dauernde Beziehungen dieser Individuen aufeinander und die Welt
der Güter enthalten. Der Staatsmacht stehen die Individuen nicht
als isolirte Atome gegenüber, sondern als ein Zusammenhang.
Im Sinne unserer bisherigen Darlegungen wird man weiter an-
erkennen müssen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familien-
gliederung und der Niederlassung, im Ineinandergreifen der Thätig-
keiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine
Organisation entsteht, welche der Staat von Anfang an trägt und
ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie sie ist, in den Zusammen-
hang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk
und Gesellschaft haben zu dieser Thatsache eine augenscheinliche
Beziehung.

Die Frage nach der Existenzberechtigung einer besonderen
Gesellschaftswissenschaft ist nicht die über die Existenz dieser That-
sache, sondern über die Zweckmäßigkeit, sie zum Gegenstand einer
besonderen Wissenschaft zu machen. -- Im Ganzen gleicht die Frage,
ob irgend ein Theilinhalt der Wirklichkeit geeignet sei, von ihm
aus bewiesene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob
ein Messer das vor mir liegt scharf sei. Man muß schneiden.
Eine neue Wissenschaft wird constituirt durch die Entdeckung wich-
tiger Wahrheiten, aber nicht durch die Absteckung eines noch nicht
occupirten Terrains in der weiten Welt von Thatsachen. Das
muß gegen den Entwurf Robert von Mohl's Bedenken erregen.
Dieser geht davon aus, daß zwischen Einzelperson, Familie,
Stamm und Gemeinde1) einerseits, dem Staat andrerseits, gleich-
förmige Beziehungen und in Folge dessen bleibende Gestaltungen
einzelner Bestandtheile der Bevölkerung sich befinden: solche werden

1) So nachdem er auf Grund der Einwendungen Treitschke's (Ge-
sellschaftswissenschaft 1859) die Gemeinde aus seiner Gesellschaftslehre ausge-
schieden hatte. Vgl. darüber Enchklopädie der Staatswissenschaften. Aufl. 2.
1872, S. 51 f.

Erſtes einleitendes Buch.
Tiefe geſehen. Hegel, Herbart, Krauſe wirkten in derſelben
Richtung. Es kann nicht beſtritten werden, daß man, von
dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortſchreitend,
zwiſchen beiden ein weites Reich von Thatſachen antrifft, welche
dauernde Beziehungen dieſer Individuen aufeinander und die Welt
der Güter enthalten. Der Staatsmacht ſtehen die Individuen nicht
als iſolirte Atome gegenüber, ſondern als ein Zuſammenhang.
Im Sinne unſerer bisherigen Darlegungen wird man weiter an-
erkennen müſſen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familien-
gliederung und der Niederlaſſung, im Ineinandergreifen der Thätig-
keiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine
Organiſation entſteht, welche der Staat von Anfang an trägt und
ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie ſie iſt, in den Zuſammen-
hang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk
und Geſellſchaft haben zu dieſer Thatſache eine augenſcheinliche
Beziehung.

Die Frage nach der Exiſtenzberechtigung einer beſonderen
Geſellſchaftswiſſenſchaft iſt nicht die über die Exiſtenz dieſer That-
ſache, ſondern über die Zweckmäßigkeit, ſie zum Gegenſtand einer
beſonderen Wiſſenſchaft zu machen. — Im Ganzen gleicht die Frage,
ob irgend ein Theilinhalt der Wirklichkeit geeignet ſei, von ihm
aus bewieſene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob
ein Meſſer das vor mir liegt ſcharf ſei. Man muß ſchneiden.
Eine neue Wiſſenſchaft wird conſtituirt durch die Entdeckung wich-
tiger Wahrheiten, aber nicht durch die Abſteckung eines noch nicht
occupirten Terrains in der weiten Welt von Thatſachen. Das
muß gegen den Entwurf Robert von Mohl’s Bedenken erregen.
Dieſer geht davon aus, daß zwiſchen Einzelperſon, Familie,
Stamm und Gemeinde1) einerſeits, dem Staat andrerſeits, gleich-
förmige Beziehungen und in Folge deſſen bleibende Geſtaltungen
einzelner Beſtandtheile der Bevölkerung ſich befinden: ſolche werden

1) So nachdem er auf Grund der Einwendungen Treitſchke’s (Ge-
ſellſchaftswiſſenſchaft 1859) die Gemeinde aus ſeiner Geſellſchaftslehre ausge-
ſchieden hatte. Vgl. darüber Enchklopädie der Staatswiſſenſchaften. Aufl. 2.
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[106/0129] Erſtes einleitendes Buch. Tiefe geſehen. Hegel, Herbart, Krauſe wirkten in derſelben Richtung. Es kann nicht beſtritten werden, daß man, von dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortſchreitend, zwiſchen beiden ein weites Reich von Thatſachen antrifft, welche dauernde Beziehungen dieſer Individuen aufeinander und die Welt der Güter enthalten. Der Staatsmacht ſtehen die Individuen nicht als iſolirte Atome gegenüber, ſondern als ein Zuſammenhang. Im Sinne unſerer bisherigen Darlegungen wird man weiter an- erkennen müſſen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familien- gliederung und der Niederlaſſung, im Ineinandergreifen der Thätig- keiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine Organiſation entſteht, welche der Staat von Anfang an trägt und ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie ſie iſt, in den Zuſammen- hang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk und Geſellſchaft haben zu dieſer Thatſache eine augenſcheinliche Beziehung. Die Frage nach der Exiſtenzberechtigung einer beſonderen Geſellſchaftswiſſenſchaft iſt nicht die über die Exiſtenz dieſer That- ſache, ſondern über die Zweckmäßigkeit, ſie zum Gegenſtand einer beſonderen Wiſſenſchaft zu machen. — Im Ganzen gleicht die Frage, ob irgend ein Theilinhalt der Wirklichkeit geeignet ſei, von ihm aus bewieſene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob ein Meſſer das vor mir liegt ſcharf ſei. Man muß ſchneiden. Eine neue Wiſſenſchaft wird conſtituirt durch die Entdeckung wich- tiger Wahrheiten, aber nicht durch die Abſteckung eines noch nicht occupirten Terrains in der weiten Welt von Thatſachen. Das muß gegen den Entwurf Robert von Mohl’s Bedenken erregen. Dieſer geht davon aus, daß zwiſchen Einzelperſon, Familie, Stamm und Gemeinde 1) einerſeits, dem Staat andrerſeits, gleich- förmige Beziehungen und in Folge deſſen bleibende Geſtaltungen einzelner Beſtandtheile der Bevölkerung ſich befinden: ſolche werden 1) So nachdem er auf Grund der Einwendungen Treitſchke’s (Ge- ſellſchaftswiſſenſchaft 1859) die Gemeinde aus ſeiner Geſellſchaftslehre ausge- ſchieden hatte. Vgl. darüber Enchklopädie der Staatswiſſenſchaften. Aufl. 2. 1872, S. 51 f.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/129>, abgerufen am 27.11.2024.