Das Studium der äußeren Organisation der Gesellschaft hat, seitdem es in Europa auftrat, seinen Mittelpunkt in der Staats- wissenschaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechischen Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche das Fundament dieser Wissenschaft gelegt haben. Wohl bestanden damals noch die Phylen und Phratrien einerseits, die Demen andrerseits, als die Reste der alten Geschlechter- und Gemeinde- ordnungen, besaßen Rechtspersönlichkeit und Vermögen, neben ihnen bestanden auch freie Genossenschaften. Aber im positiven Rechte Athens scheint1) zwischen dem Beschluß einer Corporation und der Abrede für eine gemeinsame Handelsunternehmung kein Unterschied bestanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von koinonia wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterscheidung wie die römische zwischen universitas und societas hatte sich nicht herausgebildet. Aristoteles formulirt daher nur das Ergebniß der griechischen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff der koinonia in seiner Politik ausgeht, das genetische Verhält- niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband (kome), von diesem zum Stadtstaat (polis) führt, alsdann aber den Dorfverband, als ein Stadium von nur geschichtlichem In- teresse in seiner politischen Theorie selber verschwinden läßt und den freien Genossenschaften keine Stelle in seinem Staate zutheilt. War doch im griechischen Leben in der Herrschaftsordnung des Stadtstaates alles Verbandsleben untergegangen. -- Es entwickelten sich dann weitere Bestandtheile einer Theorie der äußeren Organi- sation der Gesellschaft in der Rechtswissenschaft, in der kirchlichen Wissenschaft: am hellen Tage der Geschichte sehen wir den größten Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholische Kirche, heranwachsen und in theoretischen Formeln seine Natur aussprechen, aus ihr heraus seine Rechtsordnung sich schaffen.
Die europäische Gesellschaft zeigte nach der französischen Re- volution ein ganz neues Phänomen, als sozusagen die Hemmungs- apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organisation zwischen den starken Leidenschaften der arbeitenden Classen und der die
1) Vgl. das Solon zugeschriebene Gesetz Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22.
Erſtes einleitendes Buch.
Das Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft hat, ſeitdem es in Europa auftrat, ſeinen Mittelpunkt in der Staats- wiſſenſchaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechiſchen Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche das Fundament dieſer Wiſſenſchaft gelegt haben. Wohl beſtanden damals noch die Phylen und Phratrien einerſeits, die Demen andrerſeits, als die Reſte der alten Geſchlechter- und Gemeinde- ordnungen, beſaßen Rechtsperſönlichkeit und Vermögen, neben ihnen beſtanden auch freie Genoſſenſchaften. Aber im poſitiven Rechte Athens ſcheint1) zwiſchen dem Beſchluß einer Corporation und der Abrede für eine gemeinſame Handelsunternehmung kein Unterſchied beſtanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von κοινωνία wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterſcheidung wie die römiſche zwiſchen universitas und societas hatte ſich nicht herausgebildet. Ariſtoteles formulirt daher nur das Ergebniß der griechiſchen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff der κοινωνία in ſeiner Politik ausgeht, das genetiſche Verhält- niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband (κώμη), von dieſem zum Stadtſtaat (πόλις) führt, alsdann aber den Dorfverband, als ein Stadium von nur geſchichtlichem In- tereſſe in ſeiner politiſchen Theorie ſelber verſchwinden läßt und den freien Genoſſenſchaften keine Stelle in ſeinem Staate zutheilt. War doch im griechiſchen Leben in der Herrſchaftsordnung des Stadtſtaates alles Verbandsleben untergegangen. — Es entwickelten ſich dann weitere Beſtandtheile einer Theorie der äußeren Organi- ſation der Geſellſchaft in der Rechtswiſſenſchaft, in der kirchlichen Wiſſenſchaft: am hellen Tage der Geſchichte ſehen wir den größten Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholiſche Kirche, heranwachſen und in theoretiſchen Formeln ſeine Natur ausſprechen, aus ihr heraus ſeine Rechtsordnung ſich ſchaffen.
Die europäiſche Geſellſchaft zeigte nach der franzöſiſchen Re- volution ein ganz neues Phänomen, als ſozuſagen die Hemmungs- apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organiſation zwiſchen den ſtarken Leidenſchaften der arbeitenden Claſſen und der die
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Erſtes einleitendes Buch.
Das Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft hat,
ſeitdem es in Europa auftrat, ſeinen Mittelpunkt in der Staats-
wiſſenſchaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechiſchen
Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche
das Fundament dieſer Wiſſenſchaft gelegt haben. Wohl beſtanden
damals noch die Phylen und Phratrien einerſeits, die Demen
andrerſeits, als die Reſte der alten Geſchlechter- und Gemeinde-
ordnungen, beſaßen Rechtsperſönlichkeit und Vermögen, neben ihnen
beſtanden auch freie Genoſſenſchaften. Aber im poſitiven Rechte
Athens ſcheint 1) zwiſchen dem Beſchluß einer Corporation und der
Abrede für eine gemeinſame Handelsunternehmung kein Unterſchied
beſtanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von κοινωνία
wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterſcheidung
wie die römiſche zwiſchen universitas und societas hatte ſich nicht
herausgebildet. Ariſtoteles formulirt daher nur das Ergebniß
der griechiſchen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff
der κοινωνία in ſeiner Politik ausgeht, das genetiſche Verhält-
niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband
(κώμη), von dieſem zum Stadtſtaat (πόλις) führt, alsdann aber
den Dorfverband, als ein Stadium von nur geſchichtlichem In-
tereſſe in ſeiner politiſchen Theorie ſelber verſchwinden läßt und
den freien Genoſſenſchaften keine Stelle in ſeinem Staate zutheilt.
War doch im griechiſchen Leben in der Herrſchaftsordnung des
Stadtſtaates alles Verbandsleben untergegangen. — Es entwickelten
ſich dann weitere Beſtandtheile einer Theorie der äußeren Organi-
ſation der Geſellſchaft in der Rechtswiſſenſchaft, in der kirchlichen
Wiſſenſchaft: am hellen Tage der Geſchichte ſehen wir den größten
Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholiſche Kirche,
heranwachſen und in theoretiſchen Formeln ſeine Natur ausſprechen,
aus ihr heraus ſeine Rechtsordnung ſich ſchaffen.
Die europäiſche Geſellſchaft zeigte nach der franzöſiſchen Re-
volution ein ganz neues Phänomen, als ſozuſagen die Hemmungs-
apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organiſation zwiſchen
den ſtarken Leidenſchaften der arbeitenden Claſſen und der die
1) Vgl. das Solon zugeſchriebene Geſetz Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/127>, abgerufen am 27.11.2024.
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