Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Der geschichtliche Thatbestand d. äuß. Organisation d. Gesellschaft.
Vertragsverhältnisse in Verbandsverhältnisse übergehen, doch offen-
bar unbrauchbar, den Punkt im deutschen Recht zu bezeichnen,
an welchem irgend eine Form von Verband auftritt.

So wenig als der Grenzpunkt, kann eine Eintheilung der
Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Weise in be-
grifflicher Fassung festgestellt werden.

Der Begriff, welcher diese Abgrenzungen construirt, gehört
als Rechtsbegriff nothwendig irgend einer einzelnen Rechtsord-
nung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein solcher
Begriff in einer bestimmten Rechtsordnung hat, verglichen werden
mit der, welche in einer anderen einem entsprechenden Begriff
zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von
municipium, collegium, societas publicanorum in der römischen
Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden,
welche im deutschen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Er-
werbsgenossenschaft haben. Thatsachen, wie die Familie und der
Staat, können aber, wie uns die erkenntniß-theoretische Grund-
legung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Construktion durch
den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches
sich diese Aufgabe stellt, setzt einen Mechanismus zusammen.
Immer wieder erneuert sich in anderen Formen der fundamen-
tale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkennt-
niß aus, daß das Recht ein in einem Bestandtheil der mensch-
lichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates
entsprungenes System sei, nunmehr seinerseits zur Construktion
des Staates aus dem Recht fortschritt: eine verhängnißvolle Ver-
kennung der anderen Seite des Thatbestandes, der gewaltigen Ur-
sprünglichkeit des menschlichen Verbandslebens. Das Verfahren
einer zusammensetzenden Construktion ist sehr fruchtbar für die Ab-
leitung der Rechtsverhältnisse innerhalb eines in seinen Elementen
bestimmten Rechtssystemes; aber es hat hier seine Grenze. Diese
große geschichtliche Wirklichkeit kann nur als solche, kann nur in
ihrem historischen Zusammenhang verstanden werden, und dessen
Grundgesetz ist: das Verbandsleben der Menschheit hat sich nicht
auf dem Wege der Zusammensetzung gebildet, sondern es hat sich

Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
Vertragsverhältniſſe in Verbandsverhältniſſe übergehen, doch offen-
bar unbrauchbar, den Punkt im deutſchen Recht zu bezeichnen,
an welchem irgend eine Form von Verband auftritt.

So wenig als der Grenzpunkt, kann eine Eintheilung der
Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Weiſe in be-
grifflicher Faſſung feſtgeſtellt werden.

Der Begriff, welcher dieſe Abgrenzungen conſtruirt, gehört
als Rechtsbegriff nothwendig irgend einer einzelnen Rechtsord-
nung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein ſolcher
Begriff in einer beſtimmten Rechtsordnung hat, verglichen werden
mit der, welche in einer anderen einem entſprechenden Begriff
zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von
municipium, collegium, societas publicanorum in der römiſchen
Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden,
welche im deutſchen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Er-
werbsgenoſſenſchaft haben. Thatſachen, wie die Familie und der
Staat, können aber, wie uns die erkenntniß-theoretiſche Grund-
legung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Conſtruktion durch
den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches
ſich dieſe Aufgabe ſtellt, ſetzt einen Mechanismus zuſammen.
Immer wieder erneuert ſich in anderen Formen der fundamen-
tale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkennt-
niß aus, daß das Recht ein in einem Beſtandtheil der menſch-
lichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates
entſprungenes Syſtem ſei, nunmehr ſeinerſeits zur Conſtruktion
des Staates aus dem Recht fortſchritt: eine verhängnißvolle Ver-
kennung der anderen Seite des Thatbeſtandes, der gewaltigen Ur-
ſprünglichkeit des menſchlichen Verbandslebens. Das Verfahren
einer zuſammenſetzenden Conſtruktion iſt ſehr fruchtbar für die Ab-
leitung der Rechtsverhältniſſe innerhalb eines in ſeinen Elementen
beſtimmten Rechtsſyſtemes; aber es hat hier ſeine Grenze. Dieſe
große geſchichtliche Wirklichkeit kann nur als ſolche, kann nur in
ihrem hiſtoriſchen Zuſammenhang verſtanden werden, und deſſen
Grundgeſetz iſt: das Verbandsleben der Menſchheit hat ſich nicht
auf dem Wege der Zuſammenſetzung gebildet, ſondern es hat ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0114" n="91"/><fw place="top" type="header">Der ge&#x017F;chichtliche Thatbe&#x017F;tand d. äuß. Organi&#x017F;ation d. Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft.</fw><lb/>
Vertragsverhältni&#x017F;&#x017F;e in Verbandsverhältni&#x017F;&#x017F;e übergehen, doch offen-<lb/>
bar unbrauchbar, den Punkt im deut&#x017F;chen Recht zu bezeichnen,<lb/>
an welchem irgend eine Form von Verband auftritt.</p><lb/>
            <p>So wenig als der Grenzpunkt, kann eine <hi rendition="#g">Eintheilung</hi> der<lb/>
Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Wei&#x017F;e in be-<lb/>
grifflicher Fa&#x017F;&#x017F;ung fe&#x017F;tge&#x017F;tellt werden.</p><lb/>
            <p>Der Begriff, welcher die&#x017F;e Abgrenzungen con&#x017F;truirt, gehört<lb/>
als Rechtsbegriff nothwendig irgend einer einzelnen Rechtsord-<lb/>
nung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein &#x017F;olcher<lb/>
Begriff in einer be&#x017F;timmten Rechtsordnung hat, verglichen werden<lb/>
mit der, welche in einer anderen einem ent&#x017F;prechenden Begriff<lb/>
zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von<lb/><hi rendition="#aq">municipium, collegium, societas publicanorum</hi> in der römi&#x017F;chen<lb/>
Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden,<lb/>
welche im deut&#x017F;chen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Er-<lb/>
werbsgeno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft haben. That&#x017F;achen, wie die Familie und der<lb/>
Staat, können aber, wie uns die erkenntniß-theoreti&#x017F;che Grund-<lb/>
legung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Con&#x017F;truktion durch<lb/>
den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;e Aufgabe &#x017F;tellt, &#x017F;etzt einen Mechanismus zu&#x017F;ammen.<lb/>
Immer wieder erneuert &#x017F;ich in anderen Formen der fundamen-<lb/>
tale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkennt-<lb/>
niß aus, daß das Recht ein in einem Be&#x017F;tandtheil der men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates<lb/>
ent&#x017F;prungenes Sy&#x017F;tem &#x017F;ei, nunmehr &#x017F;einer&#x017F;eits zur Con&#x017F;truktion<lb/>
des Staates aus dem Recht fort&#x017F;chritt: eine verhängnißvolle Ver-<lb/>
kennung der anderen Seite des Thatbe&#x017F;tandes, der gewaltigen Ur-<lb/>
&#x017F;prünglichkeit des men&#x017F;chlichen Verbandslebens. Das Verfahren<lb/>
einer zu&#x017F;ammen&#x017F;etzenden Con&#x017F;truktion i&#x017F;t &#x017F;ehr fruchtbar für die Ab-<lb/>
leitung der Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;e innerhalb eines in &#x017F;einen Elementen<lb/>
be&#x017F;timmten Rechts&#x017F;y&#x017F;temes; aber es hat hier &#x017F;eine Grenze. Die&#x017F;e<lb/>
große ge&#x017F;chichtliche Wirklichkeit kann nur als &#x017F;olche, kann nur in<lb/>
ihrem hi&#x017F;tori&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhang ver&#x017F;tanden werden, und de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Grundge&#x017F;etz i&#x017F;t: das Verbandsleben der Men&#x017F;chheit hat &#x017F;ich nicht<lb/>
auf dem Wege der Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung gebildet, &#x017F;ondern es hat &#x017F;ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0114] Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft. Vertragsverhältniſſe in Verbandsverhältniſſe übergehen, doch offen- bar unbrauchbar, den Punkt im deutſchen Recht zu bezeichnen, an welchem irgend eine Form von Verband auftritt. So wenig als der Grenzpunkt, kann eine Eintheilung der Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Weiſe in be- grifflicher Faſſung feſtgeſtellt werden. Der Begriff, welcher dieſe Abgrenzungen conſtruirt, gehört als Rechtsbegriff nothwendig irgend einer einzelnen Rechtsord- nung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein ſolcher Begriff in einer beſtimmten Rechtsordnung hat, verglichen werden mit der, welche in einer anderen einem entſprechenden Begriff zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von municipium, collegium, societas publicanorum in der römiſchen Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden, welche im deutſchen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Er- werbsgenoſſenſchaft haben. Thatſachen, wie die Familie und der Staat, können aber, wie uns die erkenntniß-theoretiſche Grund- legung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Conſtruktion durch den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches ſich dieſe Aufgabe ſtellt, ſetzt einen Mechanismus zuſammen. Immer wieder erneuert ſich in anderen Formen der fundamen- tale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkennt- niß aus, daß das Recht ein in einem Beſtandtheil der menſch- lichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates entſprungenes Syſtem ſei, nunmehr ſeinerſeits zur Conſtruktion des Staates aus dem Recht fortſchritt: eine verhängnißvolle Ver- kennung der anderen Seite des Thatbeſtandes, der gewaltigen Ur- ſprünglichkeit des menſchlichen Verbandslebens. Das Verfahren einer zuſammenſetzenden Conſtruktion iſt ſehr fruchtbar für die Ab- leitung der Rechtsverhältniſſe innerhalb eines in ſeinen Elementen beſtimmten Rechtsſyſtemes; aber es hat hier ſeine Grenze. Dieſe große geſchichtliche Wirklichkeit kann nur als ſolche, kann nur in ihrem hiſtoriſchen Zuſammenhang verſtanden werden, und deſſen Grundgeſetz iſt: das Verbandsleben der Menſchheit hat ſich nicht auf dem Wege der Zuſammenſetzung gebildet, ſondern es hat ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/114
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/114>, abgerufen am 27.11.2024.