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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.

Das Merkmal der Dauer unterscheidet den Verband von vor-
übergehenden Beziehungen der Willen in einem Zweckzusammen-
hang, insbesondere im Vertrag, nur insofern, als es in der Natur
des Vertrags an und für sich nicht liegt, dauernde Verhältnisse
herbeizuführen. Dieses Merkmal ist außerdem in sich unbestimmt,
und steht es auch mit dem Zweckzusammenhang in Beziehung, dessen
Natur auf die Dauer der Verbindung wirkt, so ermöglicht doch
diese Beziehung nicht eine klare Abgrenzung des Verbandes von
mehr vorübergehenden Formen der Willenseinigung. Denn zunächst
bringt nicht jeder Zweck einen Verband hervor. Viele unsrer Lebens-
äußerungen, ob sie gleich zweckmäßig sind, greifen gar nicht in das
zweckmäßige Handeln andrer Personen ein. Wo dies alsdann der
Fall ist, kann oftmals der Zweck durch eine Coordination von Einzel-
thätigkeiten nach- und nebeneinander wirkender Personen erreicht
werden. So liegt es im Wesen des künstlerischen Schaffens, daß
ihm seine Gestalten aus der einsamen Tiefe des Gemüths empor-
steigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die
Phantasie der Menschheit erfüllen, an einer bestimmten Stelle
eintreten und in diesem stillen Reich nach einem höheren über
den Künstler hinausreichenden Zweckzusammenhang einen Platz
ausfüllen. Wo schließlich ein solcher Zweckzusammenhang auf
andere Personen rechnet, reicht dann wieder meist der Vertrag
aus, sofern er eine Einigung über ein einzelnes Geschäft oder
eine Reihe von Geschäften bewirkt. Von ihm führt zum Ver-
band ein Fortgang, innerhalb dessen unmöglich auf eine für die
Lebensverhältnisse und Rechtsordnungen der verschiedensten Kultur-
stufen gleichmäßig gültige Weise der Einschnitt des Begriffs
vollzogen werden kann. Denn diese Grenze zwischen einem Ver-
trag, der sich auf ein einzelnes Geschäft oder eine Reihe von
Geschäften bezieht, und der Begründung eines Verbands wird
durch das Recht fixirt; sonach kann sie ihrer Natur nach nur
juristisch auf eindeutige Weise ausgedrückt werden; und da nun
die Rechtsordnungen verschieden sind, so ist z. B. eine Con-
struktion, welche aus dem römischen Gegensatz von societas
und universitas die Bestimmung des Punktes ableitet, an dem

Erſtes einleitendes Buch.

Das Merkmal der Dauer unterſcheidet den Verband von vor-
übergehenden Beziehungen der Willen in einem Zweckzuſammen-
hang, insbeſondere im Vertrag, nur inſofern, als es in der Natur
des Vertrags an und für ſich nicht liegt, dauernde Verhältniſſe
herbeizuführen. Dieſes Merkmal iſt außerdem in ſich unbeſtimmt,
und ſteht es auch mit dem Zweckzuſammenhang in Beziehung, deſſen
Natur auf die Dauer der Verbindung wirkt, ſo ermöglicht doch
dieſe Beziehung nicht eine klare Abgrenzung des Verbandes von
mehr vorübergehenden Formen der Willenseinigung. Denn zunächſt
bringt nicht jeder Zweck einen Verband hervor. Viele unſrer Lebens-
äußerungen, ob ſie gleich zweckmäßig ſind, greifen gar nicht in das
zweckmäßige Handeln andrer Perſonen ein. Wo dies alsdann der
Fall iſt, kann oftmals der Zweck durch eine Coordination von Einzel-
thätigkeiten nach- und nebeneinander wirkender Perſonen erreicht
werden. So liegt es im Weſen des künſtleriſchen Schaffens, daß
ihm ſeine Geſtalten aus der einſamen Tiefe des Gemüths empor-
ſteigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die
Phantaſie der Menſchheit erfüllen, an einer beſtimmten Stelle
eintreten und in dieſem ſtillen Reich nach einem höheren über
den Künſtler hinausreichenden Zweckzuſammenhang einen Platz
ausfüllen. Wo ſchließlich ein ſolcher Zweckzuſammenhang auf
andere Perſonen rechnet, reicht dann wieder meiſt der Vertrag
aus, ſofern er eine Einigung über ein einzelnes Geſchäft oder
eine Reihe von Geſchäften bewirkt. Von ihm führt zum Ver-
band ein Fortgang, innerhalb deſſen unmöglich auf eine für die
Lebensverhältniſſe und Rechtsordnungen der verſchiedenſten Kultur-
ſtufen gleichmäßig gültige Weiſe der Einſchnitt des Begriffs
vollzogen werden kann. Denn dieſe Grenze zwiſchen einem Ver-
trag, der ſich auf ein einzelnes Geſchäft oder eine Reihe von
Geſchäften bezieht, und der Begründung eines Verbands wird
durch das Recht fixirt; ſonach kann ſie ihrer Natur nach nur
juriſtiſch auf eindeutige Weiſe ausgedrückt werden; und da nun
die Rechtsordnungen verſchieden ſind, ſo iſt z. B. eine Con-
ſtruktion, welche aus dem römiſchen Gegenſatz von societas
und universitas die Beſtimmung des Punktes ableitet, an dem

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[90/0113] Erſtes einleitendes Buch. Das Merkmal der Dauer unterſcheidet den Verband von vor- übergehenden Beziehungen der Willen in einem Zweckzuſammen- hang, insbeſondere im Vertrag, nur inſofern, als es in der Natur des Vertrags an und für ſich nicht liegt, dauernde Verhältniſſe herbeizuführen. Dieſes Merkmal iſt außerdem in ſich unbeſtimmt, und ſteht es auch mit dem Zweckzuſammenhang in Beziehung, deſſen Natur auf die Dauer der Verbindung wirkt, ſo ermöglicht doch dieſe Beziehung nicht eine klare Abgrenzung des Verbandes von mehr vorübergehenden Formen der Willenseinigung. Denn zunächſt bringt nicht jeder Zweck einen Verband hervor. Viele unſrer Lebens- äußerungen, ob ſie gleich zweckmäßig ſind, greifen gar nicht in das zweckmäßige Handeln andrer Perſonen ein. Wo dies alsdann der Fall iſt, kann oftmals der Zweck durch eine Coordination von Einzel- thätigkeiten nach- und nebeneinander wirkender Perſonen erreicht werden. So liegt es im Weſen des künſtleriſchen Schaffens, daß ihm ſeine Geſtalten aus der einſamen Tiefe des Gemüths empor- ſteigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die Phantaſie der Menſchheit erfüllen, an einer beſtimmten Stelle eintreten und in dieſem ſtillen Reich nach einem höheren über den Künſtler hinausreichenden Zweckzuſammenhang einen Platz ausfüllen. Wo ſchließlich ein ſolcher Zweckzuſammenhang auf andere Perſonen rechnet, reicht dann wieder meiſt der Vertrag aus, ſofern er eine Einigung über ein einzelnes Geſchäft oder eine Reihe von Geſchäften bewirkt. Von ihm führt zum Ver- band ein Fortgang, innerhalb deſſen unmöglich auf eine für die Lebensverhältniſſe und Rechtsordnungen der verſchiedenſten Kultur- ſtufen gleichmäßig gültige Weiſe der Einſchnitt des Begriffs vollzogen werden kann. Denn dieſe Grenze zwiſchen einem Ver- trag, der ſich auf ein einzelnes Geſchäft oder eine Reihe von Geſchäften bezieht, und der Begründung eines Verbands wird durch das Recht fixirt; ſonach kann ſie ihrer Natur nach nur juriſtiſch auf eindeutige Weiſe ausgedrückt werden; und da nun die Rechtsordnungen verſchieden ſind, ſo iſt z. B. eine Con- ſtruktion, welche aus dem römiſchen Gegenſatz von societas und universitas die Beſtimmung des Punktes ableitet, an dem

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/113>, abgerufen am 27.11.2024.