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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
die Natur dieser theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft ent-
schieden wird.

Die dargestellten psychischen Thatsachen von Gemeinschaft einer-
seits, von Herrschaft und Abhängigkeit andrerseits (gegenseitige Ab-
hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchströmen wie Herzblut
in dem feinsten Adersystem die äußere Organisation der Gesellschaft.
Alle Verbandsverhältnisse sind, psychologisch angesehen,
aus ihnen zusammengesetzt. Und zwar ist das Vorhandensein
dieser Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft,
sondern diese psychischen und psychophysischen Bestandtheile alles
Verbandslebens erstrecken sich viel weiter als dieses selber in der
Gesellschaft. -- So finden wir in der naturgewachsenen Gliederung
der Gesellschaft, welche der genealogische Zusammenhang zunächst
bestimmt, nach den Grundverhältnissen von Abstammung und
Verwandtschaft größere Gruppen immer die kleineren umfassend, diese
nach ihrer Verwandtschaft aneinandergereiht: die an der größeren
feststellbare durchgehende Modifikation der menschlichen Natur ist
stets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer
engeren Gleichförmigkeit näher bestimmt: und auf dieser Natur-
grundlage verbindet nun eine intimere Wechselwirkung und ein be-
stimmter Grad von Bewußtsein der Zusammengehörigkeit nach Gleich-
artigkeit sowie nach Erinnerung von Abstammung und Verwandt-
schaft eine jede solche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch
wo kein Verband mit ihnen verknüpft ist, bestehen diese Gemein-
schaften. -- Mit der Niederlassung entsteht eine neue Gliederung,
welche von der genealogischen unterschieden ist, ein neues Gefühl
von Gemeinschaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinsamen
Boden und gemeinsame Arbeit bedingt ist, und auch diese Ge-
meinschaft ist von dem Bestand eines Verbandes unabhängig. --
Geschichtliche Macht großer Persönlichkeiten, geschichtliches Eingreifen
großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und
näher, was so durch die Naturgliederung des genealogischen Zu-
sammenhangs der Menschheit sowie des Bodens, auf dem derselbe
sich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreise von Gemeinschaften
gegeben sein würde. Vor Allem die Völker haben sich durch welt-

Erſtes einleitendes Buch.
die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent-
ſchieden wird.

Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer-
ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab-
hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut
in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft.
Alle Verbandsverhältniſſe ſind, pſychologiſch angeſehen,
aus ihnen zuſammengeſetzt. Und zwar iſt das Vorhandenſein
dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft,
ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles
Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der
Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung
der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt
beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und
Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe
nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren
feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt
ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer
engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur-
grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be-
ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich-
artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt-
ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch
wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein-
ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung,
welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl
von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen
Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge-
meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. —
Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen
großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und
näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu-
ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe
ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften
gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt-

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[86/0109] Erſtes einleitendes Buch. die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent- ſchieden wird. Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer- ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab- hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft. Alle Verbandsverhältniſſe ſind, pſychologiſch angeſehen, aus ihnen zuſammengeſetzt. Und zwar iſt das Vorhandenſein dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft, ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur- grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be- ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich- artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt- ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein- ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung, welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge- meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. — Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu- ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/109>, abgerufen am 24.11.2024.