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Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

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Daß der Lehrer den Proceß für sich durchgemacht habe,
muß vorausgesetzt werden. Nun besteht sein Geschäft darin,
daß er seine Schüler dazu befähige. Dazu reicht nicht hin,
daß er den Denkproceß ihnen vormache; er muß denselben in
ihnen erzeugen.

Ob Solches der Fall sei, ob die Schüler ihn angefangen
haben und fortsetzen, Solches kann man nur erfahren, wenn
die Schüler ihre Gedanken äußern. Folglich darf dieses nicht
fehlen. Mit Recht fordert daher Theremin als vorherr-
schende Lehrform den Dialog. Dem muß ich vollkommen
beistimmen, obgleich ich von ihm allein die Wirkungen nicht
erwarte, die er sich davon verspricht, nämlich die Vernichtung
aller Mängel und Gebrechen des Universitätswesens. Es
muß nach dem Früheren noch viel Anderes hinzukommen.
Aber ich steigere seine Forderung und verlange nicht bloß dia-
logische Unterhaltung, sondern strenge, sokratische Entwicklung,
besonders der Grundideen und alles Wesentlichen, das solcher
Behandlung fähig ist.

Alles Wissen zerfällt in zwei Arten. Entweder ist es
historisch positiver Art, oder es stammt aus dem Geiste. Bei-
des muß scharf gesondert werden. Nach der Verschiedenheit
des Ursprunges ist es verschieden zu behandeln. Das Erste
muß gegeben werden und der Schüler hat es zu lernen und
in seinem Gebrauche sich zu üben, bis zur vollkommenen Fer-
tigkeit. Das Zweite dagegen soll er suchen und finden. Dazu
bedarf er der Leitung, der Erregung. Jenes soll gar nicht
Gegenstand des Lehrvortrages in den Hörsälen der Universitä-
ten sein, es gehört in das Buch, das der Schüler sich anzu-
schaffen hat, um die Materialien sich anzueignen. Solches
kann man ihm, da er ein gereifter Jüngling, kein Kind mehr
ist, überlassen, und man muß es ihm zumuthen. Das aus

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Daß der Lehrer den Proceß fuͤr ſich durchgemacht habe,
muß vorausgeſetzt werden. Nun beſteht ſein Geſchaͤft darin,
daß er ſeine Schuͤler dazu befaͤhige. Dazu reicht nicht hin,
daß er den Denkproceß ihnen vormache; er muß denſelben in
ihnen erzeugen.

Ob Solches der Fall ſei, ob die Schuͤler ihn angefangen
haben und fortſetzen, Solches kann man nur erfahren, wenn
die Schuͤler ihre Gedanken aͤußern. Folglich darf dieſes nicht
fehlen. Mit Recht fordert daher Theremin als vorherr-
ſchende Lehrform den Dialog. Dem muß ich vollkommen
beiſtimmen, obgleich ich von ihm allein die Wirkungen nicht
erwarte, die er ſich davon verſpricht, naͤmlich die Vernichtung
aller Maͤngel und Gebrechen des Univerſitaͤtsweſens. Es
muß nach dem Fruͤheren noch viel Anderes hinzukommen.
Aber ich ſteigere ſeine Forderung und verlange nicht bloß dia-
logiſche Unterhaltung, ſondern ſtrenge, ſokratiſche Entwicklung,
beſonders der Grundideen und alles Weſentlichen, das ſolcher
Behandlung faͤhig iſt.

Alles Wiſſen zerfaͤllt in zwei Arten. Entweder iſt es
hiſtoriſch poſitiver Art, oder es ſtammt aus dem Geiſte. Bei-
des muß ſcharf geſondert werden. Nach der Verſchiedenheit
des Urſprunges iſt es verſchieden zu behandeln. Das Erſte
muß gegeben werden und der Schuͤler hat es zu lernen und
in ſeinem Gebrauche ſich zu uͤben, bis zur vollkommenen Fer-
tigkeit. Das Zweite dagegen ſoll er ſuchen und finden. Dazu
bedarf er der Leitung, der Erregung. Jenes ſoll gar nicht
Gegenſtand des Lehrvortrages in den Hoͤrſaͤlen der Univerſitaͤ-
ten ſein, es gehoͤrt in das Buch, das der Schuͤler ſich anzu-
ſchaffen hat, um die Materialien ſich anzueignen. Solches
kann man ihm, da er ein gereifter Juͤngling, kein Kind mehr
iſt, uͤberlaſſen, und man muß es ihm zumuthen. Das aus

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[37/0055] Daß der Lehrer den Proceß fuͤr ſich durchgemacht habe, muß vorausgeſetzt werden. Nun beſteht ſein Geſchaͤft darin, daß er ſeine Schuͤler dazu befaͤhige. Dazu reicht nicht hin, daß er den Denkproceß ihnen vormache; er muß denſelben in ihnen erzeugen. Ob Solches der Fall ſei, ob die Schuͤler ihn angefangen haben und fortſetzen, Solches kann man nur erfahren, wenn die Schuͤler ihre Gedanken aͤußern. Folglich darf dieſes nicht fehlen. Mit Recht fordert daher Theremin als vorherr- ſchende Lehrform den Dialog. Dem muß ich vollkommen beiſtimmen, obgleich ich von ihm allein die Wirkungen nicht erwarte, die er ſich davon verſpricht, naͤmlich die Vernichtung aller Maͤngel und Gebrechen des Univerſitaͤtsweſens. Es muß nach dem Fruͤheren noch viel Anderes hinzukommen. Aber ich ſteigere ſeine Forderung und verlange nicht bloß dia- logiſche Unterhaltung, ſondern ſtrenge, ſokratiſche Entwicklung, beſonders der Grundideen und alles Weſentlichen, das ſolcher Behandlung faͤhig iſt. Alles Wiſſen zerfaͤllt in zwei Arten. Entweder iſt es hiſtoriſch poſitiver Art, oder es ſtammt aus dem Geiſte. Bei- des muß ſcharf geſondert werden. Nach der Verſchiedenheit des Urſprunges iſt es verſchieden zu behandeln. Das Erſte muß gegeben werden und der Schuͤler hat es zu lernen und in ſeinem Gebrauche ſich zu uͤben, bis zur vollkommenen Fer- tigkeit. Das Zweite dagegen ſoll er ſuchen und finden. Dazu bedarf er der Leitung, der Erregung. Jenes ſoll gar nicht Gegenſtand des Lehrvortrages in den Hoͤrſaͤlen der Univerſitaͤ- ten ſein, es gehoͤrt in das Buch, das der Schuͤler ſich anzu- ſchaffen hat, um die Materialien ſich anzueignen. Solches kann man ihm, da er ein gereifter Juͤngling, kein Kind mehr iſt, uͤberlaſſen, und man muß es ihm zumuthen. Das aus 4

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Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/55>, abgerufen am 24.11.2024.