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Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

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zu denen, die ihn nicht verstanden haben, und ich verstehe
auch die nicht, die ihn verstanden zu haben behaupten; aber
dieses weiß ich aus Erfahrung. Im Jahre 1825 hospitirte
ich bei ihm einige Stunden. Er quälte sich damit ab, den
Unterschied des Discursiven und Intuitiven deutlich zu ma-
chen. Aber von ihm konnte man diesen Unterschied, den man
einem Secundaner leicht deutlich machen kann, nicht lernen.
Wer ihn vorher nicht kannte, lernte ihn gewiß durch ihn nicht
kennen. Hegel gehörte daher in die Akademie, d. h. in die
stille Kammer, nicht auf den Lehrstuhl. Denn die Deutlich-
keit
ist die erste Eigenschaft jedes Lehrers. Ohne sie giebt
es keine Lehrergröße. Wer ein Lehrer Anderer sein will und
für Andere berufen ist, hat sich zu diesen hinabzulassen und
sie von ihrem Standpunkte aus zu seiner Höhe hinaufzuziehen.
Dieses ist seine Pflicht, und darin besteht sein Ruhm. Mag
er sich für seine neuen Begriffe einen neuen Sprachgebrauch
wählen, er hat diesen an die Begriffe und den allgemeinen
Sprachgebrauch, die er ohne Unbilligkeit bei den ihm über-
wiesenen Schülern voraussetzen kann, anzuschließen. Kann
er dieses nicht, so paßt er nicht zum Lehrer, und will er es
nicht, so handelt er gewissenlos.

Es giebt einen falschen und einen wahren Scharfsinn.
Der wahre ist gerichtet auf die Erforschung des Wahren; dem
falschen ist es nicht um die Wahrheit, sondern um die Aufspü-
rung bisher übersehener Verhältnisse und Beziehungen und um
den Schein der Consequenz zu thun. Nicht das (scheinbar)
scharfsinnigste System verdient den Vorzug, sondern das
wahrste. Der Scharfsinn, geübt und angewandt auf falsche
Vordersätze, und im Besitz blendender Consequenzmacherei ist
für Jünglinge, die nicht prüfen können, wahrhaft gefährlich.
Dieser falsche Scharfsinn liebt das Gewand der Dunkelheit;

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zu denen, die ihn nicht verſtanden haben, und ich verſtehe
auch die nicht, die ihn verſtanden zu haben behaupten; aber
dieſes weiß ich aus Erfahrung. Im Jahre 1825 hospitirte
ich bei ihm einige Stunden. Er quaͤlte ſich damit ab, den
Unterſchied des Discurſiven und Intuitiven deutlich zu ma-
chen. Aber von ihm konnte man dieſen Unterſchied, den man
einem Secundaner leicht deutlich machen kann, nicht lernen.
Wer ihn vorher nicht kannte, lernte ihn gewiß durch ihn nicht
kennen. Hegel gehoͤrte daher in die Akademie, d. h. in die
ſtille Kammer, nicht auf den Lehrſtuhl. Denn die Deutlich-
keit
iſt die erſte Eigenſchaft jedes Lehrers. Ohne ſie giebt
es keine Lehrergroͤße. Wer ein Lehrer Anderer ſein will und
fuͤr Andere berufen iſt, hat ſich zu dieſen hinabzulaſſen und
ſie von ihrem Standpunkte aus zu ſeiner Hoͤhe hinaufzuziehen.
Dieſes iſt ſeine Pflicht, und darin beſteht ſein Ruhm. Mag
er ſich fuͤr ſeine neuen Begriffe einen neuen Sprachgebrauch
waͤhlen, er hat dieſen an die Begriffe und den allgemeinen
Sprachgebrauch, die er ohne Unbilligkeit bei den ihm uͤber-
wieſenen Schuͤlern vorausſetzen kann, anzuſchließen. Kann
er dieſes nicht, ſo paßt er nicht zum Lehrer, und will er es
nicht, ſo handelt er gewiſſenlos.

Es giebt einen falſchen und einen wahren Scharfſinn.
Der wahre iſt gerichtet auf die Erforſchung des Wahren; dem
falſchen iſt es nicht um die Wahrheit, ſondern um die Aufſpuͤ-
rung bisher uͤberſehener Verhaͤltniſſe und Beziehungen und um
den Schein der Conſequenz zu thun. Nicht das (ſcheinbar)
ſcharfſinnigſte Syſtem verdient den Vorzug, ſondern das
wahrſte. Der Scharfſinn, geuͤbt und angewandt auf falſche
Vorderſaͤtze, und im Beſitz blendender Conſequenzmacherei iſt
fuͤr Juͤnglinge, die nicht pruͤfen koͤnnen, wahrhaft gefaͤhrlich.
Dieſer falſche Scharfſinn liebt das Gewand der Dunkelheit;

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[7/0025] zu denen, die ihn nicht verſtanden haben, und ich verſtehe auch die nicht, die ihn verſtanden zu haben behaupten; aber dieſes weiß ich aus Erfahrung. Im Jahre 1825 hospitirte ich bei ihm einige Stunden. Er quaͤlte ſich damit ab, den Unterſchied des Discurſiven und Intuitiven deutlich zu ma- chen. Aber von ihm konnte man dieſen Unterſchied, den man einem Secundaner leicht deutlich machen kann, nicht lernen. Wer ihn vorher nicht kannte, lernte ihn gewiß durch ihn nicht kennen. Hegel gehoͤrte daher in die Akademie, d. h. in die ſtille Kammer, nicht auf den Lehrſtuhl. Denn die Deutlich- keit iſt die erſte Eigenſchaft jedes Lehrers. Ohne ſie giebt es keine Lehrergroͤße. Wer ein Lehrer Anderer ſein will und fuͤr Andere berufen iſt, hat ſich zu dieſen hinabzulaſſen und ſie von ihrem Standpunkte aus zu ſeiner Hoͤhe hinaufzuziehen. Dieſes iſt ſeine Pflicht, und darin beſteht ſein Ruhm. Mag er ſich fuͤr ſeine neuen Begriffe einen neuen Sprachgebrauch waͤhlen, er hat dieſen an die Begriffe und den allgemeinen Sprachgebrauch, die er ohne Unbilligkeit bei den ihm uͤber- wieſenen Schuͤlern vorausſetzen kann, anzuſchließen. Kann er dieſes nicht, ſo paßt er nicht zum Lehrer, und will er es nicht, ſo handelt er gewiſſenlos. Es giebt einen falſchen und einen wahren Scharfſinn. Der wahre iſt gerichtet auf die Erforſchung des Wahren; dem falſchen iſt es nicht um die Wahrheit, ſondern um die Aufſpuͤ- rung bisher uͤberſehener Verhaͤltniſſe und Beziehungen und um den Schein der Conſequenz zu thun. Nicht das (ſcheinbar) ſcharfſinnigſte Syſtem verdient den Vorzug, ſondern das wahrſte. Der Scharfſinn, geuͤbt und angewandt auf falſche Vorderſaͤtze, und im Beſitz blendender Conſequenzmacherei iſt fuͤr Juͤnglinge, die nicht pruͤfen koͤnnen, wahrhaft gefaͤhrlich. Dieſer falſche Scharfſinn liebt das Gewand der Dunkelheit; 2*

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Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/25>, abgerufen am 25.11.2024.