Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Fundament für dieselben arbeitet; ungeheuer wegen
der Kräfte, die ihr zu Gebote stehen, wenn man sie
für die Grundlegung und für die Anbahnung einer
wirklich neuen Zeit zu benutzen verstehen möchte; un-
geheuer wegen der Verantwortung, die diejenigen un-
ter uns, deren Finger den langen Hebel der morali-
schen und physischen Kräfte der Gegenwart lenkt, zu
übernehmen haben. Es kommt mir vor, als wäre
jeder Tag, jede Stunde von schwerem Gewicht. Die-
ses Gefühl beherrscht mich oft in solchem Grade, daß
mir der Leichtsinn der Zeitgenossen wie eine ungeheure
Ironie des Schicksals erscheint. Wir sollten, meine
ich, Tag und Nacht darauf sinnen, wie wir die Auf-
gabe der Zeit, ich meine jene Fundamentirung für
Jahrhunderte, lösen könnten; wir sollten nur den
schweren Ernst auf der Stirne, die Gediegenheit auf
der Zunge, die Gewissenhaftigkeit im Herzen haben
und -- der Leichtsinn ist den Zeitgenossen auf die
Stirne geschrieben, ihre Zunge theilt nur Anekdoten
und Witzworte mit, und ihr Herz hängt an den sinn-
lichen Freuden der Welt, die vorüberrauschen wie ein
Gastmahl, eine Carnevalslust und ein Ballet, und
nichts in dem Herzen zurücklassen als eine schauerliche
Oede, die man durch neue raffinirte Lust zu verscheu-
chen sucht. Als hätte das Horn des Hüon alle im
Sinnenrausch mit sich fortgerissen, oder Mephistophe-
les durch die sophistischen Lehren des praktischen Ma-

Fundament fuͤr dieſelben arbeitet; ungeheuer wegen
der Kraͤfte, die ihr zu Gebote ſtehen, wenn man ſie
fuͤr die Grundlegung und fuͤr die Anbahnung einer
wirklich neuen Zeit zu benutzen verſtehen moͤchte; un-
geheuer wegen der Verantwortung, die diejenigen un-
ter uns, deren Finger den langen Hebel der morali-
ſchen und phyſiſchen Kraͤfte der Gegenwart lenkt, zu
uͤbernehmen haben. Es kommt mir vor, als waͤre
jeder Tag, jede Stunde von ſchwerem Gewicht. Die-
ſes Gefuͤhl beherrſcht mich oft in ſolchem Grade, daß
mir der Leichtſinn der Zeitgenoſſen wie eine ungeheure
Ironie des Schickſals erſcheint. Wir ſollten, meine
ich, Tag und Nacht darauf ſinnen, wie wir die Auf-
gabe der Zeit, ich meine jene Fundamentirung fuͤr
Jahrhunderte, loͤſen koͤnnten; wir ſollten nur den
ſchweren Ernſt auf der Stirne, die Gediegenheit auf
der Zunge, die Gewiſſenhaftigkeit im Herzen haben
und — der Leichtſinn iſt den Zeitgenoſſen auf die
Stirne geſchrieben, ihre Zunge theilt nur Anekdoten
und Witzworte mit, und ihr Herz haͤngt an den ſinn-
lichen Freuden der Welt, die voruͤberrauſchen wie ein
Gaſtmahl, eine Carnevalsluſt und ein Ballet, und
nichts in dem Herzen zuruͤcklaſſen als eine ſchauerliche
Oede, die man durch neue raffinirte Luſt zu verſcheu-
chen ſucht. Als haͤtte das Horn des Huͤon alle im
Sinnenrauſch mit ſich fortgeriſſen, oder Mephiſtophe-
les durch die ſophiſtiſchen Lehren des praktiſchen Ma-

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="IV"/>
Fundament fu&#x0364;r die&#x017F;elben arbeitet; ungeheuer wegen<lb/>
der Kra&#x0364;fte, die ihr zu Gebote &#x017F;tehen, wenn man &#x017F;ie<lb/>
fu&#x0364;r die Grundlegung und fu&#x0364;r die Anbahnung einer<lb/>
wirklich neuen Zeit zu benutzen ver&#x017F;tehen mo&#x0364;chte; un-<lb/>
geheuer wegen der Verantwortung, die diejenigen un-<lb/>
ter uns, deren Finger den langen Hebel der morali-<lb/>
&#x017F;chen und phy&#x017F;i&#x017F;chen Kra&#x0364;fte der Gegenwart lenkt, zu<lb/>
u&#x0364;bernehmen haben. Es kommt mir vor, als wa&#x0364;re<lb/>
jeder Tag, jede Stunde von &#x017F;chwerem Gewicht. Die-<lb/>
&#x017F;es Gefu&#x0364;hl beherr&#x017F;cht mich oft in &#x017F;olchem Grade, daß<lb/>
mir der Leicht&#x017F;inn der Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en wie eine ungeheure<lb/>
Ironie des Schick&#x017F;als er&#x017F;cheint. Wir &#x017F;ollten, meine<lb/>
ich, Tag und Nacht darauf &#x017F;innen, wie wir die Auf-<lb/>
gabe der Zeit, ich meine jene Fundamentirung fu&#x0364;r<lb/>
Jahrhunderte, lo&#x0364;&#x017F;en ko&#x0364;nnten; wir &#x017F;ollten nur den<lb/>
&#x017F;chweren Ern&#x017F;t auf der Stirne, die Gediegenheit auf<lb/>
der Zunge, die Gewi&#x017F;&#x017F;enhaftigkeit im Herzen haben<lb/>
und &#x2014; der Leicht&#x017F;inn i&#x017F;t den Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en auf die<lb/>
Stirne ge&#x017F;chrieben, ihre Zunge theilt nur Anekdoten<lb/>
und Witzworte mit, und ihr Herz ha&#x0364;ngt an den &#x017F;inn-<lb/>
lichen Freuden der Welt, die voru&#x0364;berrau&#x017F;chen wie ein<lb/>
Ga&#x017F;tmahl, eine Carnevalslu&#x017F;t und ein Ballet, und<lb/>
nichts in dem Herzen zuru&#x0364;ckla&#x017F;&#x017F;en als eine &#x017F;chauerliche<lb/>
Oede, die man durch neue raffinirte Lu&#x017F;t zu ver&#x017F;cheu-<lb/>
chen &#x017F;ucht. Als ha&#x0364;tte das Horn des Hu&#x0364;on alle im<lb/>
Sinnenrau&#x017F;ch mit &#x017F;ich fortgeri&#x017F;&#x017F;en, oder Mephi&#x017F;tophe-<lb/>
les durch die &#x017F;ophi&#x017F;ti&#x017F;chen Lehren des prakti&#x017F;chen Ma-<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[IV/0010] Fundament fuͤr dieſelben arbeitet; ungeheuer wegen der Kraͤfte, die ihr zu Gebote ſtehen, wenn man ſie fuͤr die Grundlegung und fuͤr die Anbahnung einer wirklich neuen Zeit zu benutzen verſtehen moͤchte; un- geheuer wegen der Verantwortung, die diejenigen un- ter uns, deren Finger den langen Hebel der morali- ſchen und phyſiſchen Kraͤfte der Gegenwart lenkt, zu uͤbernehmen haben. Es kommt mir vor, als waͤre jeder Tag, jede Stunde von ſchwerem Gewicht. Die- ſes Gefuͤhl beherrſcht mich oft in ſolchem Grade, daß mir der Leichtſinn der Zeitgenoſſen wie eine ungeheure Ironie des Schickſals erſcheint. Wir ſollten, meine ich, Tag und Nacht darauf ſinnen, wie wir die Auf- gabe der Zeit, ich meine jene Fundamentirung fuͤr Jahrhunderte, loͤſen koͤnnten; wir ſollten nur den ſchweren Ernſt auf der Stirne, die Gediegenheit auf der Zunge, die Gewiſſenhaftigkeit im Herzen haben und — der Leichtſinn iſt den Zeitgenoſſen auf die Stirne geſchrieben, ihre Zunge theilt nur Anekdoten und Witzworte mit, und ihr Herz haͤngt an den ſinn- lichen Freuden der Welt, die voruͤberrauſchen wie ein Gaſtmahl, eine Carnevalsluſt und ein Ballet, und nichts in dem Herzen zuruͤcklaſſen als eine ſchauerliche Oede, die man durch neue raffinirte Luſt zu verſcheu- chen ſucht. Als haͤtte das Horn des Huͤon alle im Sinnenrauſch mit ſich fortgeriſſen, oder Mephiſtophe- les durch die ſophiſtiſchen Lehren des praktiſchen Ma-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/10
Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/10>, abgerufen am 24.11.2024.