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Diefenbach, Johann: Reformation oder Revolution. Mainz, 1897.

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Übergewicht, und was der suche, Gottes Ehre oder eigenen
Nutzen, erfährt man alle Tage."

Der Raum verbietet uns, das Zeugenverhör aus dem
ersten Jahrhundert fortzusetzen. Döllingers Verdienst besteht
vorzüglich darin, daß er in seiner Reformationsgeschichte die
Zeugnisse von einigen hunderten hervorragenden Männern
zusammengestellt hat. Nur einer möge noch zum Worte kom-
men, der sanfte, schmerz- und thränenreiche Melanchthon.
Seinem Busenfreunde Camerarius schüttet er am offensten
sein Herz aus. Diesem schreibt er z. B.: "Schon lange
beängstigen mich, wie du wohl weißt, nicht nur die wütenden
Gegner, sondern auch die vielen Sünden und Laster
der Unsern.
" .... "Gewisse verborgene Übel einige der
Unsern ängstigen meine Seele in der That mehr, als was
uns von den Feinden droht." Einem andern gesteht derselbe
Melanchthon: "Nicht nur die Wut der Feinde, sondern auch
unsere eigenen Laster schrecken mich, und oft kommt mir
jene Äußerung des Perikles in den Sinn: Jch fürchte mehr
unsere eigenen Vergehen, als die Anschläge unserer Wider-
sacher." Ferner: "Wenn ich die jetzige Unordnung und bar-
barische Verwirrung betrachte, vergehe ich vor Schmerz und
Trauer."

Auch litt er an politischen Beklemmungen: "Jch fürchte,"
schreibt er1) dem Camerarius, "die Sache läuft endlich auf
eine Auflösung des Reiches hinaus. Wenn ich das bedenke,
und ich kann nicht sagen, daß ich es jemals nicht bedenke,
so erfaßt mich ein unsäglicher Schmerz."

Vier Jahre früher (1530) meldete er an Luther vom Augs-
burger Reichstage aus: "Der Stand unserer Angelegenheiten

1) Corp. Ref. II. 703. Cf. Ono Klopp, "Melanchthon". Verlag der
Germania 1897. S. 24.

Übergewicht, und was der ſuche, Gottes Ehre oder eigenen
Nutzen, erfährt man alle Tage.‟

Der Raum verbietet uns, das Zeugenverhör aus dem
erſten Jahrhundert fortzuſetzen. Döllingers Verdienſt beſteht
vorzüglich darin, daß er in ſeiner Reformationsgeſchichte die
Zeugniſſe von einigen hunderten hervorragenden Männern
zuſammengeſtellt hat. Nur einer möge noch zum Worte kom-
men, der ſanfte, ſchmerz- und thränenreiche Melanchthon.
Seinem Buſenfreunde Camerarius ſchüttet er am offenſten
ſein Herz aus. Dieſem ſchreibt er z. B.: „Schon lange
beängſtigen mich, wie du wohl weißt, nicht nur die wütenden
Gegner, ſondern auch die vielen Sünden und Laſter
der Unſern.
‟ .... „Gewiſſe verborgene Übel einige der
Unſern ängſtigen meine Seele in der That mehr, als was
uns von den Feinden droht.‟ Einem andern geſteht derſelbe
Melanchthon: „Nicht nur die Wut der Feinde, ſondern auch
unſere eigenen Laſter ſchrecken mich, und oft kommt mir
jene Äußerung des Perikles in den Sinn: Jch fürchte mehr
unſere eigenen Vergehen, als die Anſchläge unſerer Wider-
ſacher.‟ Ferner: „Wenn ich die jetzige Unordnung und bar-
bariſche Verwirrung betrachte, vergehe ich vor Schmerz und
Trauer.‟

Auch litt er an politiſchen Beklemmungen: „Jch fürchte,‟
ſchreibt er1) dem Camerarius, „die Sache läuft endlich auf
eine Auflöſung des Reiches hinaus. Wenn ich das bedenke,
und ich kann nicht ſagen, daß ich es jemals nicht bedenke,
ſo erfaßt mich ein unſäglicher Schmerz.‟

Vier Jahre früher (1530) meldete er an Luther vom Augs-
burger Reichstage aus: „Der Stand unſerer Angelegenheiten

1) Corp. Ref. II. 703. Cf. Ono Klopp, „Melanchthon‟. Verlag der
Germania 1897. S. 24.
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[47/0059] Übergewicht, und was der ſuche, Gottes Ehre oder eigenen Nutzen, erfährt man alle Tage.‟ Der Raum verbietet uns, das Zeugenverhör aus dem erſten Jahrhundert fortzuſetzen. Döllingers Verdienſt beſteht vorzüglich darin, daß er in ſeiner Reformationsgeſchichte die Zeugniſſe von einigen hunderten hervorragenden Männern zuſammengeſtellt hat. Nur einer möge noch zum Worte kom- men, der ſanfte, ſchmerz- und thränenreiche Melanchthon. Seinem Buſenfreunde Camerarius ſchüttet er am offenſten ſein Herz aus. Dieſem ſchreibt er z. B.: „Schon lange beängſtigen mich, wie du wohl weißt, nicht nur die wütenden Gegner, ſondern auch die vielen Sünden und Laſter der Unſern.‟ .... „Gewiſſe verborgene Übel einige der Unſern ängſtigen meine Seele in der That mehr, als was uns von den Feinden droht.‟ Einem andern geſteht derſelbe Melanchthon: „Nicht nur die Wut der Feinde, ſondern auch unſere eigenen Laſter ſchrecken mich, und oft kommt mir jene Äußerung des Perikles in den Sinn: Jch fürchte mehr unſere eigenen Vergehen, als die Anſchläge unſerer Wider- ſacher.‟ Ferner: „Wenn ich die jetzige Unordnung und bar- bariſche Verwirrung betrachte, vergehe ich vor Schmerz und Trauer.‟ Auch litt er an politiſchen Beklemmungen: „Jch fürchte,‟ ſchreibt er 1) dem Camerarius, „die Sache läuft endlich auf eine Auflöſung des Reiches hinaus. Wenn ich das bedenke, und ich kann nicht ſagen, daß ich es jemals nicht bedenke, ſo erfaßt mich ein unſäglicher Schmerz.‟ Vier Jahre früher (1530) meldete er an Luther vom Augs- burger Reichstage aus: „Der Stand unſerer Angelegenheiten 1) Corp. Ref. II. 703. Cf. Ono Klopp, „Melanchthon‟. Verlag der Germania 1897. S. 24.

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Zitationshilfe: Diefenbach, Johann: Reformation oder Revolution. Mainz, 1897, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diefenbach_reformation_1897/59>, abgerufen am 04.12.2024.