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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
einen Blick auf die Saar- und Moselgegend bis Trier: sie sind im
Gegensatz zum Elsaß kunstgeschichtlich der Typus eines Grenz-
landes mit offenem Schlagbaum. Es ist doch nicht der Vogesen-
wall allein, der den Unterschied macht; ich meine, noch mehr
tat dazu der Unterschied zwischen alemannischem und fränki-
schem Temperament.

Auf einen Schlag änderte sich das geschilderte Verhalten
durch die Tat des großen Künstlers, der um das Jahr 1250 das
Langhaus des Straßburger Münsters zu bauen begann. Woher
er kam, ob er Rudolf geheißen hat oder wie sonst, das wissen wir
nicht; nur daß er sicher, wie aus bestimmten Merkmalen exakt
erwiesen werden kann, ein Deutscher war. Er hatte eine vollständige
französische Schulung durchgemacht, in seiner Denkweise lebte
etwas unvertilgbar Deutsches fort, das schon sein Zeitgenosse in
Köln nicht mehr besaß. Die Schnelligkeit ohnegleichen, mit der
die Energie der Bürgerschaft den Bau des Münsterlanghauses
zur Vollendung trieb, war nicht nur ein Gewinn für die Stadt,
sondern ein entscheidendes Ereignis für ganz Süddeutschland.
Längere Zeit ist das Straßburger Münster der einzige Bau auf
deutschem Boden gewesen, aus dem zu ersehen war, was wahre
und volle Gotik sei. Selten in der Baugeschichte ist die Wirkung
eines einzelnen Werkes so a tempo eingetreten. Das rechte Rhein-
ufer fiel noch während des Münsterbaues unter seine Herrschaft:
Allerheiligen, Lahr, vor allem Freiburg. Alsbald fortschreitender
Einfluß weit und breit in Schwaben und bis Nürnberg und
Regensburg. Was in Schwaben, Franken und Bayern vor
dem Straßburger Münster gotisch gebaut worden ist, läßt sich
Fall für Fall als von unmittelbar in Frankreich geschulten
Meistern herrührend erweisen. Der im Jahre der Vollendung
unseres Münsterlanghauses begonnene Dom zu Regensburg ist
der letzte dieser Fälle. Von da ab hörten die süddeutschen
Bauleute auf, nach Frankreich zu wandern: sie gingen nach
Straßburg. So hat also das Straßburger Münster französische
Kunstelemente in umfassendster Weise propagiert, zugleich aber
den unmittelbaren Einfluß Frankreichs abgeschnitten. Aus der
engeren Verbindung aber, in die das Elsaß jetzt mit dem

6*

Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
einen Blick auf die Saar- und Moselgegend bis Trier: sie sind im
Gegensatz zum Elsaß kunstgeschichtlich der Typus eines Grenz-
landes mit offenem Schlagbaum. Es ist doch nicht der Vogesen-
wall allein, der den Unterschied macht; ich meine, noch mehr
tat dazu der Unterschied zwischen alemannischem und fränki-
schem Temperament.

Auf einen Schlag änderte sich das geschilderte Verhalten
durch die Tat des großen Künstlers, der um das Jahr 1250 das
Langhaus des Straßburger Münsters zu bauen begann. Woher
er kam, ob er Rudolf geheißen hat oder wie sonst, das wissen wir
nicht; nur daß er sicher, wie aus bestimmten Merkmalen exakt
erwiesen werden kann, ein Deutscher war. Er hatte eine vollständige
französische Schulung durchgemacht, in seiner Denkweise lebte
etwas unvertilgbar Deutsches fort, das schon sein Zeitgenosse in
Köln nicht mehr besaß. Die Schnelligkeit ohnegleichen, mit der
die Energie der Bürgerschaft den Bau des Münsterlanghauses
zur Vollendung trieb, war nicht nur ein Gewinn für die Stadt,
sondern ein entscheidendes Ereignis für ganz Süddeutschland.
Längere Zeit ist das Straßburger Münster der einzige Bau auf
deutschem Boden gewesen, aus dem zu ersehen war, was wahre
und volle Gotik sei. Selten in der Baugeschichte ist die Wirkung
eines einzelnen Werkes so a tempo eingetreten. Das rechte Rhein-
ufer fiel noch während des Münsterbaues unter seine Herrschaft:
Allerheiligen, Lahr, vor allem Freiburg. Alsbald fortschreitender
Einfluß weit und breit in Schwaben und bis Nürnberg und
Regensburg. Was in Schwaben, Franken und Bayern vor
dem Straßburger Münster gotisch gebaut worden ist, läßt sich
Fall für Fall als von unmittelbar in Frankreich geschulten
Meistern herrührend erweisen. Der im Jahre der Vollendung
unseres Münsterlanghauses begonnene Dom zu Regensburg ist
der letzte dieser Fälle. Von da ab hörten die süddeutschen
Bauleute auf, nach Frankreich zu wandern: sie gingen nach
Straßburg. So hat also das Straßburger Münster französische
Kunstelemente in umfassendster Weise propagiert, zugleich aber
den unmittelbaren Einfluß Frankreichs abgeschnitten. Aus der
engeren Verbindung aber, in die das Elsaß jetzt mit dem

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[83/0097] Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß einen Blick auf die Saar- und Moselgegend bis Trier: sie sind im Gegensatz zum Elsaß kunstgeschichtlich der Typus eines Grenz- landes mit offenem Schlagbaum. Es ist doch nicht der Vogesen- wall allein, der den Unterschied macht; ich meine, noch mehr tat dazu der Unterschied zwischen alemannischem und fränki- schem Temperament. Auf einen Schlag änderte sich das geschilderte Verhalten durch die Tat des großen Künstlers, der um das Jahr 1250 das Langhaus des Straßburger Münsters zu bauen begann. Woher er kam, ob er Rudolf geheißen hat oder wie sonst, das wissen wir nicht; nur daß er sicher, wie aus bestimmten Merkmalen exakt erwiesen werden kann, ein Deutscher war. Er hatte eine vollständige französische Schulung durchgemacht, in seiner Denkweise lebte etwas unvertilgbar Deutsches fort, das schon sein Zeitgenosse in Köln nicht mehr besaß. Die Schnelligkeit ohnegleichen, mit der die Energie der Bürgerschaft den Bau des Münsterlanghauses zur Vollendung trieb, war nicht nur ein Gewinn für die Stadt, sondern ein entscheidendes Ereignis für ganz Süddeutschland. Längere Zeit ist das Straßburger Münster der einzige Bau auf deutschem Boden gewesen, aus dem zu ersehen war, was wahre und volle Gotik sei. Selten in der Baugeschichte ist die Wirkung eines einzelnen Werkes so a tempo eingetreten. Das rechte Rhein- ufer fiel noch während des Münsterbaues unter seine Herrschaft: Allerheiligen, Lahr, vor allem Freiburg. Alsbald fortschreitender Einfluß weit und breit in Schwaben und bis Nürnberg und Regensburg. Was in Schwaben, Franken und Bayern vor dem Straßburger Münster gotisch gebaut worden ist, läßt sich Fall für Fall als von unmittelbar in Frankreich geschulten Meistern herrührend erweisen. Der im Jahre der Vollendung unseres Münsterlanghauses begonnene Dom zu Regensburg ist der letzte dieser Fälle. Von da ab hörten die süddeutschen Bauleute auf, nach Frankreich zu wandern: sie gingen nach Straßburg. So hat also das Straßburger Münster französische Kunstelemente in umfassendster Weise propagiert, zugleich aber den unmittelbaren Einfluß Frankreichs abgeschnitten. Aus der engeren Verbindung aber, in die das Elsaß jetzt mit dem 6*

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/97>, abgerufen am 24.11.2024.