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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters

Bis zu diesem Punkte war der Stand der Plastik in Deutsch-
land, Frankreich, Italien ungefähr gleich hoch oder niedrig ge-
wesen, in Deutschland vielleicht etwas höher sogar als in den an-
deren Ländern trotz deren älterer Kultur. Der monumentale Stil
ist die alleinige Schöpfung Frankreichs. Er entstand um dieselbe
Zeit und in denselben Schulen, deren Energie sich auf die Vervoll-
kommnung des Gewölbebaus warf. Der innere Zusammenhang
ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens
nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich
auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik
tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber
von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden
die Führung. Die neue Stilbildung ist, daß die Plastik nicht mehr
als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem
architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in
viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht
wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das
Statuenportal. In bezug auf Prachtentfaltung als solche war
schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles,
Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der
Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht,
neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit,
sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienst-
verhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen
der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den
allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts
mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebel-
gruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar
tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plasti-
schen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie
sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der
Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedanken-
entwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie
erkennt, daß in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten
ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung
wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu

Die Kunst des Mittelalters

Bis zu diesem Punkte war der Stand der Plastik in Deutsch-
land, Frankreich, Italien ungefähr gleich hoch oder niedrig ge-
wesen, in Deutschland vielleicht etwas höher sogar als in den an-
deren Ländern trotz deren älterer Kultur. Der monumentale Stil
ist die alleinige Schöpfung Frankreichs. Er entstand um dieselbe
Zeit und in denselben Schulen, deren Energie sich auf die Vervoll-
kommnung des Gewölbebaus warf. Der innere Zusammenhang
ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens
nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich
auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik
tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber
von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden
die Führung. Die neue Stilbildung ist, daß die Plastik nicht mehr
als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem
architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in
viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht
wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das
Statuenportal. In bezug auf Prachtentfaltung als solche war
schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles,
Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der
Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht,
neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit,
sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienst-
verhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen
der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den
allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts
mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebel-
gruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar
tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plasti-
schen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie
sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der
Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedanken-
entwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie
erkennt, daß in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten
ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung
wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu

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[43/0057] Die Kunst des Mittelalters Bis zu diesem Punkte war der Stand der Plastik in Deutsch- land, Frankreich, Italien ungefähr gleich hoch oder niedrig ge- wesen, in Deutschland vielleicht etwas höher sogar als in den an- deren Ländern trotz deren älterer Kultur. Der monumentale Stil ist die alleinige Schöpfung Frankreichs. Er entstand um dieselbe Zeit und in denselben Schulen, deren Energie sich auf die Vervoll- kommnung des Gewölbebaus warf. Der innere Zusammenhang ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden die Führung. Die neue Stilbildung ist, daß die Plastik nicht mehr als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das Statuenportal. In bezug auf Prachtentfaltung als solche war schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles, Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht, neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit, sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienst- verhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebel- gruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plasti- schen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedanken- entwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie erkennt, daß in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/57>, abgerufen am 23.11.2024.