In ihr nimmt unbestritten Frankreich den ersten Platz ein. Der Luxus darin, wenn wir zu dem immer noch vielen, was sich erhal- ten hat, das Untergegangene hinzunehmen, scheint überschwenglich groß, und doch ist er unentbehrlich, weil ohne ihn eine gotische Kirche des aufgelösten Systems unfertig ist. Man begreift es, daß lieber auf die Vollendung der Fassade und der Türme verzichtet wurde, als auf den Besitz von Glasgemälden. Nächstdem hat sich Deutschland ehrenvoll hervorgetan; das Beste vor 1300. Eng- land und Italien sind an Glasmalereien arm.
Die Buchmalerei wird in den Verfall der klösterlichen Kunst hineingezogen. Daß Handschriften weltlichen Inhalts jetzt häufiger mit Bildern geschmückt werden, ist kulturgeschichtlich bemerkens- wert; die Kunstentwicklung hat bedeutende Impulse daraus nicht empfangen. Nur in den Niederlanden kommt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Buchmalerei von und für Laien in die Höhe, in der wir den Anfang einer neuen Auffassung erkennen; sie führt alsbald aus dem Mittelalter heraus. Endgültige Befreiung sowohl von der Einschnürung ins Kunstgewerbe als von der Ver- flüchtigung in Baudekoration brachte dann das Altarbild. Seine Geschichte, wenn sie auch im 14. Jahrhundert beginnt, gehört in die Anfänge der Neuzeit.
Ungleich der Malerei hatte die Plastik der Frühzeit jeg- liche Verbindung mit der monumentalen Kunst verloren. Die altchristliche Kirche konnte auf diesem Gebiet der Anschauung der nordischen Völker nichts darbieten. Geraume Zeit, bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts und länger, blieb die Bildhauerkunst ausschließlich Kleinkunst im Gefolge des Kunsthandwerks: sie schmückte Altarvorsätze, Kruzifixe, Leuchter, Diptychen, Buch- deckel, Meßgeräte u. dgl. Kunstpsychologisch bemerkenswert ist die Tatsache, daß Auge und Hand der Neulinge sich weit leichter in die plastische Form einlebten als in die Abstraktionen der Malerei, und so tritt denn hier, neben dem, was den Vorbildern verdankt wird, verhältnismäßig früh auch Eigenes hervor. Die technischen Gattungen sind scharf voneinander getrennt, jede hat ihre eigene Formenüberlieferung. Den vornehmsten Eindruck macht die Elfenbeinplastik an Diptychen, Hostienbüchsen und Reliquien-
Die Kunst des Mittelalters
In ihr nimmt unbestritten Frankreich den ersten Platz ein. Der Luxus darin, wenn wir zu dem immer noch vielen, was sich erhal- ten hat, das Untergegangene hinzunehmen, scheint überschwenglich groß, und doch ist er unentbehrlich, weil ohne ihn eine gotische Kirche des aufgelösten Systems unfertig ist. Man begreift es, daß lieber auf die Vollendung der Fassade und der Türme verzichtet wurde, als auf den Besitz von Glasgemälden. Nächstdem hat sich Deutschland ehrenvoll hervorgetan; das Beste vor 1300. Eng- land und Italien sind an Glasmalereien arm.
Die Buchmalerei wird in den Verfall der klösterlichen Kunst hineingezogen. Daß Handschriften weltlichen Inhalts jetzt häufiger mit Bildern geschmückt werden, ist kulturgeschichtlich bemerkens- wert; die Kunstentwicklung hat bedeutende Impulse daraus nicht empfangen. Nur in den Niederlanden kommt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Buchmalerei von und für Laien in die Höhe, in der wir den Anfang einer neuen Auffassung erkennen; sie führt alsbald aus dem Mittelalter heraus. Endgültige Befreiung sowohl von der Einschnürung ins Kunstgewerbe als von der Ver- flüchtigung in Baudekoration brachte dann das Altarbild. Seine Geschichte, wenn sie auch im 14. Jahrhundert beginnt, gehört in die Anfänge der Neuzeit.
Ungleich der Malerei hatte die Plastik der Frühzeit jeg- liche Verbindung mit der monumentalen Kunst verloren. Die altchristliche Kirche konnte auf diesem Gebiet der Anschauung der nordischen Völker nichts darbieten. Geraume Zeit, bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts und länger, blieb die Bildhauerkunst ausschließlich Kleinkunst im Gefolge des Kunsthandwerks: sie schmückte Altarvorsätze, Kruzifixe, Leuchter, Diptychen, Buch- deckel, Meßgeräte u. dgl. Kunstpsychologisch bemerkenswert ist die Tatsache, daß Auge und Hand der Neulinge sich weit leichter in die plastische Form einlebten als in die Abstraktionen der Malerei, und so tritt denn hier, neben dem, was den Vorbildern verdankt wird, verhältnismäßig früh auch Eigenes hervor. Die technischen Gattungen sind scharf voneinander getrennt, jede hat ihre eigene Formenüberlieferung. Den vornehmsten Eindruck macht die Elfenbeinplastik an Diptychen, Hostienbüchsen und Reliquien-
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Die Kunst des Mittelalters
In ihr nimmt unbestritten Frankreich den ersten Platz ein. Der
Luxus darin, wenn wir zu dem immer noch vielen, was sich erhal-
ten hat, das Untergegangene hinzunehmen, scheint überschwenglich
groß, und doch ist er unentbehrlich, weil ohne ihn eine gotische
Kirche des aufgelösten Systems unfertig ist. Man begreift es, daß
lieber auf die Vollendung der Fassade und der Türme verzichtet
wurde, als auf den Besitz von Glasgemälden. Nächstdem hat sich
Deutschland ehrenvoll hervorgetan; das Beste vor 1300. Eng-
land und Italien sind an Glasmalereien arm.
Die Buchmalerei wird in den Verfall der klösterlichen Kunst
hineingezogen. Daß Handschriften weltlichen Inhalts jetzt häufiger
mit Bildern geschmückt werden, ist kulturgeschichtlich bemerkens-
wert; die Kunstentwicklung hat bedeutende Impulse daraus
nicht empfangen. Nur in den Niederlanden kommt in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Buchmalerei von und für Laien
in die Höhe, in der wir den Anfang einer neuen Auffassung erkennen;
sie führt alsbald aus dem Mittelalter heraus. Endgültige Befreiung
sowohl von der Einschnürung ins Kunstgewerbe als von der Ver-
flüchtigung in Baudekoration brachte dann das Altarbild. Seine
Geschichte, wenn sie auch im 14. Jahrhundert beginnt, gehört in
die Anfänge der Neuzeit.
Ungleich der Malerei hatte die Plastik der Frühzeit jeg-
liche Verbindung mit der monumentalen Kunst verloren. Die
altchristliche Kirche konnte auf diesem Gebiet der Anschauung
der nordischen Völker nichts darbieten. Geraume Zeit, bis zur
Mitte des 12. Jahrhunderts und länger, blieb die Bildhauerkunst
ausschließlich Kleinkunst im Gefolge des Kunsthandwerks: sie
schmückte Altarvorsätze, Kruzifixe, Leuchter, Diptychen, Buch-
deckel, Meßgeräte u. dgl. Kunstpsychologisch bemerkenswert ist
die Tatsache, daß Auge und Hand der Neulinge sich weit leichter
in die plastische Form einlebten als in die Abstraktionen der Malerei,
und so tritt denn hier, neben dem, was den Vorbildern verdankt
wird, verhältnismäßig früh auch Eigenes hervor. Die technischen
Gattungen sind scharf voneinander getrennt, jede hat ihre eigene
Formenüberlieferung. Den vornehmsten Eindruck macht die
Elfenbeinplastik an Diptychen, Hostienbüchsen und Reliquien-
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/55>, abgerufen am 23.07.2024.
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