langen Zeitraum vom Siege der christlichen Kirche am Anfang des 4. bis zum Kulminationspunkte der mittelalterlichen Kultur am Anfang des 13. Jahrhunderts hat die Malerei die unbedingte Vorherrschaft besessen. Daß dieses aber nicht eine Vorherrschaft dessen bedeutet, was wir malerisches Empfinden nennen, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden; es ist der Ausdruck des vollkommenen Übergewichtes der stofflich-illustrativen und tek- tonisch-dekorativen Interessen über das Forminteresse.
Mit der Malerei des Mittelalters sich damit abfinden zu wollen, daß man sie für primitiv, für noch in den Kinderschuhen steckend erklärt, wäre somit das verfehlteste. In Wahrheit steckt in ihr uralte Tradition, nur zu viel! Es war kein fruchtbringendes Zusammentreffen zwischen der Unreife der ästhetisch noch nicht erwachten Nordländer und den welken Formen des antiken Greisen- alters. Es konnte nur in der Vorstellung bestärken, daß Kunst und Natur ganz getrennte Welten seien. Außerdem waren es heilige Formen. Ihr religiöser Wert war durch möglichst genaue Nachahmung, bei der mehr die Hand als das Auge in Frage kam, sicherzustellen.
Innerhalb der ihr gezogenen Grenzen besitzt die Malerei das- selbe hohe Stilgefühl, das wir am Kunstgewerbe rühmten; sie hat die Achtung, in der sie stand, vollauf verdient. Für den modernen Standpunkt ist sie nicht freie, nur angewandte Kunst. Die Ge- stalten und Szenen standen fest; denn es war ja ihr Zweck, tunlichst leicht nach ihrer Sachbedeutung verstanden zu werden; nur leise, unvermerkt durften sie in den Jahrhunderten sich wandeln, diese oder jene neue Darstellung in ihren Kreis aufnehmen. Der beste Maler war der, der seine Vorbilder ohne Verzerrung so zu ver- schieben verstand, daß sie den jeweiligen Forderungen der archi- tektonischen Flächengliederung Genüge leisteten. Illusion körper- licher Rundung oder räumlicher Vertiefung wäre für diesen Stil Vernichtung gewesen. Die Fläche soll belebt, aber nicht durch- brochen werden. Die Stellungen der Figuren sind so gewählt, daß die im Gedächtnis als vorzüglich bezeichnend für Haltung, Bewegung, Gebärde haftenbleibenden Züge schon in der Umriß- linie Platz finden. Durch lange Erfahrung waren sie festgestellt,
Die Kunst des Mittelalters
langen Zeitraum vom Siege der christlichen Kirche am Anfang des 4. bis zum Kulminationspunkte der mittelalterlichen Kultur am Anfang des 13. Jahrhunderts hat die Malerei die unbedingte Vorherrschaft besessen. Daß dieses aber nicht eine Vorherrschaft dessen bedeutet, was wir malerisches Empfinden nennen, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden; es ist der Ausdruck des vollkommenen Übergewichtes der stofflich-illustrativen und tek- tonisch-dekorativen Interessen über das Forminteresse.
Mit der Malerei des Mittelalters sich damit abfinden zu wollen, daß man sie für primitiv, für noch in den Kinderschuhen steckend erklärt, wäre somit das verfehlteste. In Wahrheit steckt in ihr uralte Tradition, nur zu viel! Es war kein fruchtbringendes Zusammentreffen zwischen der Unreife der ästhetisch noch nicht erwachten Nordländer und den welken Formen des antiken Greisen- alters. Es konnte nur in der Vorstellung bestärken, daß Kunst und Natur ganz getrennte Welten seien. Außerdem waren es heilige Formen. Ihr religiöser Wert war durch möglichst genaue Nachahmung, bei der mehr die Hand als das Auge in Frage kam, sicherzustellen.
Innerhalb der ihr gezogenen Grenzen besitzt die Malerei das- selbe hohe Stilgefühl, das wir am Kunstgewerbe rühmten; sie hat die Achtung, in der sie stand, vollauf verdient. Für den modernen Standpunkt ist sie nicht freie, nur angewandte Kunst. Die Ge- stalten und Szenen standen fest; denn es war ja ihr Zweck, tunlichst leicht nach ihrer Sachbedeutung verstanden zu werden; nur leise, unvermerkt durften sie in den Jahrhunderten sich wandeln, diese oder jene neue Darstellung in ihren Kreis aufnehmen. Der beste Maler war der, der seine Vorbilder ohne Verzerrung so zu ver- schieben verstand, daß sie den jeweiligen Forderungen der archi- tektonischen Flächengliederung Genüge leisteten. Illusion körper- licher Rundung oder räumlicher Vertiefung wäre für diesen Stil Vernichtung gewesen. Die Fläche soll belebt, aber nicht durch- brochen werden. Die Stellungen der Figuren sind so gewählt, daß die im Gedächtnis als vorzüglich bezeichnend für Haltung, Bewegung, Gebärde haftenbleibenden Züge schon in der Umriß- linie Platz finden. Durch lange Erfahrung waren sie festgestellt,
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Die Kunst des Mittelalters
langen Zeitraum vom Siege der christlichen Kirche am Anfang
des 4. bis zum Kulminationspunkte der mittelalterlichen Kultur
am Anfang des 13. Jahrhunderts hat die Malerei die unbedingte
Vorherrschaft besessen. Daß dieses aber nicht eine Vorherrschaft
dessen bedeutet, was wir malerisches Empfinden nennen, braucht
nicht mehr nachgewiesen zu werden; es ist der Ausdruck des
vollkommenen Übergewichtes der stofflich-illustrativen und tek-
tonisch-dekorativen Interessen über das Forminteresse.
Mit der Malerei des Mittelalters sich damit abfinden zu
wollen, daß man sie für primitiv, für noch in den Kinderschuhen
steckend erklärt, wäre somit das verfehlteste. In Wahrheit steckt
in ihr uralte Tradition, nur zu viel! Es war kein fruchtbringendes
Zusammentreffen zwischen der Unreife der ästhetisch noch nicht
erwachten Nordländer und den welken Formen des antiken Greisen-
alters. Es konnte nur in der Vorstellung bestärken, daß Kunst
und Natur ganz getrennte Welten seien. Außerdem waren es
heilige Formen. Ihr religiöser Wert war durch möglichst genaue
Nachahmung, bei der mehr die Hand als das Auge in Frage kam,
sicherzustellen.
Innerhalb der ihr gezogenen Grenzen besitzt die Malerei das-
selbe hohe Stilgefühl, das wir am Kunstgewerbe rühmten; sie hat
die Achtung, in der sie stand, vollauf verdient. Für den modernen
Standpunkt ist sie nicht freie, nur angewandte Kunst. Die Ge-
stalten und Szenen standen fest; denn es war ja ihr Zweck, tunlichst
leicht nach ihrer Sachbedeutung verstanden zu werden; nur leise,
unvermerkt durften sie in den Jahrhunderten sich wandeln, diese
oder jene neue Darstellung in ihren Kreis aufnehmen. Der beste
Maler war der, der seine Vorbilder ohne Verzerrung so zu ver-
schieben verstand, daß sie den jeweiligen Forderungen der archi-
tektonischen Flächengliederung Genüge leisteten. Illusion körper-
licher Rundung oder räumlicher Vertiefung wäre für diesen Stil
Vernichtung gewesen. Die Fläche soll belebt, aber nicht durch-
brochen werden. Die Stellungen der Figuren sind so gewählt,
daß die im Gedächtnis als vorzüglich bezeichnend für Haltung,
Bewegung, Gebärde haftenbleibenden Züge schon in der Umriß-
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/52>, abgerufen am 23.07.2024.
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