ein Grundgefühl aus, das ebenso neu ist, wie von Claus Sluter und den van Eycks ab dasjenige der Bildkünstler. Auch die Baukunst des 15. Jahrhunderts bedeutet schon nicht mehr Mittelalter.
Der Baukunst des Mittelalters kam das populäre Empfin- den des letzten Jahrhunderts mit aufgeschlossenem Sinn ent- gegen, die Verehrung steigerte sich bis zur Unterwerfung und Nachahmung; die Bildkunst des Mittelalters dagegen gilt für schwerer genießbar, für etwas, das man den Gelehrten überlassen müsse. Sicher ist, daß sie in der Mitte zwischen antiker und moderner Kunst ganz fremdartig sich ausnimmt. Man irrt sich aber, wenn man den Unterschied vornehmlich als einen graduellen, als Folge eines geringeren Könnens ansieht; er liegt viel tiefer, in einem prinzipiell anders gerichteten Wollen. Das Mittelalter hat dem Bilde, in erster Linie dem Menschenbilde, von Anfang an einen aus- gedehnten Platz zugewiesen, aber es tat es in einer anderen Ab- sicht als in der uns selbstverständlich erscheinenden. Das Mittel- alter ist erst sehr spät dabei angelangt, in der Kunst einen Spiegel der Wirklichkeit anzusehen; sie war lange Zeit naturlos, an- schauungslos, unzugänglich für diejenigen geistigen Anregungen aus der sinnlichen Erscheinungswelt, die wir, in künstlerischer Umsetzung, der Form zuschreiben. Es ist merkwürdig, wie die späte Antike und die ursprüngliche Stimmung der germanisch- keltischen Völker, auf die die Tradition jener überging, in diesem negativen Moment völlig zusammentrafen. Die positiven Auf- gaben der mittelalterlichen Bildkunst sind zwei, wie man aber sogleich sieht, unter sich disparate: zu illustrieren und zu deko- rieren, einen religiös-poetischen Gedankenstoff zu vermitteln und ein tektonisches Objekt, sei es die Wand einer Kirche oder ein Buch oder einen Reliquienkasten oder was sonst, zu schmücken. Etwas anderes verlangte die Kirche nicht und etwas anderes hätten auch die Völker nicht begriffen. Nach beiden Richtungen ist nun die Malerei unvergleichlich leistungsfähiger als die Plastik. Diese war schon aus der Spätantike fast verschwunden. In dem
Die Kunst des Mittelalters
ein Grundgefühl aus, das ebenso neu ist, wie von Claus Sluter und den van Eycks ab dasjenige der Bildkünstler. Auch die Baukunst des 15. Jahrhunderts bedeutet schon nicht mehr Mittelalter.
Der Baukunst des Mittelalters kam das populäre Empfin- den des letzten Jahrhunderts mit aufgeschlossenem Sinn ent- gegen, die Verehrung steigerte sich bis zur Unterwerfung und Nachahmung; die Bildkunst des Mittelalters dagegen gilt für schwerer genießbar, für etwas, das man den Gelehrten überlassen müsse. Sicher ist, daß sie in der Mitte zwischen antiker und moderner Kunst ganz fremdartig sich ausnimmt. Man irrt sich aber, wenn man den Unterschied vornehmlich als einen graduellen, als Folge eines geringeren Könnens ansieht; er liegt viel tiefer, in einem prinzipiell anders gerichteten Wollen. Das Mittelalter hat dem Bilde, in erster Linie dem Menschenbilde, von Anfang an einen aus- gedehnten Platz zugewiesen, aber es tat es in einer anderen Ab- sicht als in der uns selbstverständlich erscheinenden. Das Mittel- alter ist erst sehr spät dabei angelangt, in der Kunst einen Spiegel der Wirklichkeit anzusehen; sie war lange Zeit naturlos, an- schauungslos, unzugänglich für diejenigen geistigen Anregungen aus der sinnlichen Erscheinungswelt, die wir, in künstlerischer Umsetzung, der Form zuschreiben. Es ist merkwürdig, wie die späte Antike und die ursprüngliche Stimmung der germanisch- keltischen Völker, auf die die Tradition jener überging, in diesem negativen Moment völlig zusammentrafen. Die positiven Auf- gaben der mittelalterlichen Bildkunst sind zwei, wie man aber sogleich sieht, unter sich disparate: zu illustrieren und zu deko- rieren, einen religiös-poetischen Gedankenstoff zu vermitteln und ein tektonisches Objekt, sei es die Wand einer Kirche oder ein Buch oder einen Reliquienkasten oder was sonst, zu schmücken. Etwas anderes verlangte die Kirche nicht und etwas anderes hätten auch die Völker nicht begriffen. Nach beiden Richtungen ist nun die Malerei unvergleichlich leistungsfähiger als die Plastik. Diese war schon aus der Spätantike fast verschwunden. In dem
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Die Kunst des Mittelalters
ein Grundgefühl aus, das ebenso neu ist, wie von Claus Sluter und
den van Eycks ab dasjenige der Bildkünstler. Auch die Baukunst
des 15. Jahrhunderts bedeutet schon nicht mehr Mittelalter.
Der Baukunst des Mittelalters kam das populäre Empfin-
den des letzten Jahrhunderts mit aufgeschlossenem Sinn ent-
gegen, die Verehrung steigerte sich bis zur Unterwerfung und
Nachahmung; die Bildkunst des Mittelalters dagegen gilt für
schwerer genießbar, für etwas, das man den Gelehrten überlassen
müsse. Sicher ist, daß sie in der Mitte zwischen antiker und moderner
Kunst ganz fremdartig sich ausnimmt. Man irrt sich aber, wenn
man den Unterschied vornehmlich als einen graduellen, als Folge
eines geringeren Könnens ansieht; er liegt viel tiefer, in einem
prinzipiell anders gerichteten Wollen. Das Mittelalter hat dem
Bilde, in erster Linie dem Menschenbilde, von Anfang an einen aus-
gedehnten Platz zugewiesen, aber es tat es in einer anderen Ab-
sicht als in der uns selbstverständlich erscheinenden. Das Mittel-
alter ist erst sehr spät dabei angelangt, in der Kunst einen Spiegel
der Wirklichkeit anzusehen; sie war lange Zeit naturlos, an-
schauungslos, unzugänglich für diejenigen geistigen Anregungen
aus der sinnlichen Erscheinungswelt, die wir, in künstlerischer
Umsetzung, der Form zuschreiben. Es ist merkwürdig, wie die
späte Antike und die ursprüngliche Stimmung der germanisch-
keltischen Völker, auf die die Tradition jener überging, in diesem
negativen Moment völlig zusammentrafen. Die positiven Auf-
gaben der mittelalterlichen Bildkunst sind zwei, wie man aber
sogleich sieht, unter sich disparate: zu illustrieren und zu deko-
rieren, einen religiös-poetischen Gedankenstoff zu vermitteln und
ein tektonisches Objekt, sei es die Wand einer Kirche oder ein
Buch oder einen Reliquienkasten oder was sonst, zu schmücken.
Etwas anderes verlangte die Kirche nicht und etwas anderes
hätten auch die Völker nicht begriffen. Nach beiden Richtungen
ist nun die Malerei unvergleichlich leistungsfähiger als die Plastik.
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/51>, abgerufen am 23.07.2024.
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