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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
bürgerung des nordischen Stils vollzog sich erst dadurch, daß die
Bettelorden, die neue Großmacht im Geistesleben Italiens, für ihn
Partei ergriffen. Sie empfingen ihn aus den Händen der Zister-
zienser, haben ihn aber sofort in italienischem Geiste umgestaltet.
Das System wechselt -- bald sind es Basiliken, bald einschiffige
Kirchen, bald sind sie flach gedeckt, bald gewölbt -- der Charakter
ist gleichartig. Er kann mit denselben Worten definiert werden,
die wir oben von den südfranzösischen Bauten brauchten: der
Schwerpunkt liegt in der Raumerscheinung, der sich dem (viel
einfacher als im französischen System behandelten) Gliederbau
ganz unterordnen muß. (Beispiele: Santa Maria novella und
Santa Croce in Florenz, Frari und Santi Giovanni e Paolo in
Venedig, Carmine in Pavia.) Die letzten und entscheidenden
Schritte zur Italisierung taten dann die großen seit Ende des
13. Jahrhunderts in Angriff genommenen, wesentlich im 14. Jahr-
hundert ausgeführten Kathedralbauten, an der Spitze der Dom
von Florenz. Hier handelt es sich nicht etwa um eine neue Ab-
wandlung und besondere Interpretation des gotischen Bauideals,
sondern um eine Abkehr von ihm: Raumbegrenzung durch ruhige,
von wenigen und kleinen Fenstern nur unterbrochenen Wand-
flächen, Raumgliederung in wenige, aber große und scharf gegen-
einander isolierte Abteilungen, Beschränkung des konstruktiven
Apparats und überhaupt Stillung des Bewegungsdranges, große
Vereinfachung der Außenansicht durch Wegfall des Strebewerkes
und der Türme, ganz neu die Steigerung durch einen gewaltigen
Kuppelbau. Genug: in allem, was wesentlich ist, keine Gotik --
auch keine mißverstandene -- sondern eine sehr bewußt anti-
gotische Gotik -- in Wahrheit latente Renaissance.

Genau in der Zeit, dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts,
in der die italienische Architektur den Umschwung von der la-
tenten zur offenen, von der halben zur vollen Renaissance vollzog,
trat auch die nordische in eine neue Epoche ein. Man nennt sie
herkömmlich die Spätgotik, womit aber nur die eine, und
zwar nicht die ausschlaggebende Seite ihres Wesens gekenn-
zeichnet ist. In der gotischen Formensprache, die sie beibehält,
immerhin mit starken Veränderungen im einzelnen, drückt sie

Die Kunst des Mittelalters
bürgerung des nordischen Stils vollzog sich erst dadurch, daß die
Bettelorden, die neue Großmacht im Geistesleben Italiens, für ihn
Partei ergriffen. Sie empfingen ihn aus den Händen der Zister-
zienser, haben ihn aber sofort in italienischem Geiste umgestaltet.
Das System wechselt — bald sind es Basiliken, bald einschiffige
Kirchen, bald sind sie flach gedeckt, bald gewölbt — der Charakter
ist gleichartig. Er kann mit denselben Worten definiert werden,
die wir oben von den südfranzösischen Bauten brauchten: der
Schwerpunkt liegt in der Raumerscheinung, der sich dem (viel
einfacher als im französischen System behandelten) Gliederbau
ganz unterordnen muß. (Beispiele: Santa Maria novella und
Santa Croce in Florenz, Frari und Santi Giovanni e Paolo in
Venedig, Carmine in Pavia.) Die letzten und entscheidenden
Schritte zur Italisierung taten dann die großen seit Ende des
13. Jahrhunderts in Angriff genommenen, wesentlich im 14. Jahr-
hundert ausgeführten Kathedralbauten, an der Spitze der Dom
von Florenz. Hier handelt es sich nicht etwa um eine neue Ab-
wandlung und besondere Interpretation des gotischen Bauideals,
sondern um eine Abkehr von ihm: Raumbegrenzung durch ruhige,
von wenigen und kleinen Fenstern nur unterbrochenen Wand-
flächen, Raumgliederung in wenige, aber große und scharf gegen-
einander isolierte Abteilungen, Beschränkung des konstruktiven
Apparats und überhaupt Stillung des Bewegungsdranges, große
Vereinfachung der Außenansicht durch Wegfall des Strebewerkes
und der Türme, ganz neu die Steigerung durch einen gewaltigen
Kuppelbau. Genug: in allem, was wesentlich ist, keine Gotik —
auch keine mißverstandene — sondern eine sehr bewußt anti-
gotische Gotik — in Wahrheit latente Renaissance.

Genau in der Zeit, dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts,
in der die italienische Architektur den Umschwung von der la-
tenten zur offenen, von der halben zur vollen Renaissance vollzog,
trat auch die nordische in eine neue Epoche ein. Man nennt sie
herkömmlich die Spätgotik, womit aber nur die eine, und
zwar nicht die ausschlaggebende Seite ihres Wesens gekenn-
zeichnet ist. In der gotischen Formensprache, die sie beibehält,
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[36/0050] Die Kunst des Mittelalters bürgerung des nordischen Stils vollzog sich erst dadurch, daß die Bettelorden, die neue Großmacht im Geistesleben Italiens, für ihn Partei ergriffen. Sie empfingen ihn aus den Händen der Zister- zienser, haben ihn aber sofort in italienischem Geiste umgestaltet. Das System wechselt — bald sind es Basiliken, bald einschiffige Kirchen, bald sind sie flach gedeckt, bald gewölbt — der Charakter ist gleichartig. Er kann mit denselben Worten definiert werden, die wir oben von den südfranzösischen Bauten brauchten: der Schwerpunkt liegt in der Raumerscheinung, der sich dem (viel einfacher als im französischen System behandelten) Gliederbau ganz unterordnen muß. (Beispiele: Santa Maria novella und Santa Croce in Florenz, Frari und Santi Giovanni e Paolo in Venedig, Carmine in Pavia.) Die letzten und entscheidenden Schritte zur Italisierung taten dann die großen seit Ende des 13. Jahrhunderts in Angriff genommenen, wesentlich im 14. Jahr- hundert ausgeführten Kathedralbauten, an der Spitze der Dom von Florenz. Hier handelt es sich nicht etwa um eine neue Ab- wandlung und besondere Interpretation des gotischen Bauideals, sondern um eine Abkehr von ihm: Raumbegrenzung durch ruhige, von wenigen und kleinen Fenstern nur unterbrochenen Wand- flächen, Raumgliederung in wenige, aber große und scharf gegen- einander isolierte Abteilungen, Beschränkung des konstruktiven Apparats und überhaupt Stillung des Bewegungsdranges, große Vereinfachung der Außenansicht durch Wegfall des Strebewerkes und der Türme, ganz neu die Steigerung durch einen gewaltigen Kuppelbau. Genug: in allem, was wesentlich ist, keine Gotik — auch keine mißverstandene — sondern eine sehr bewußt anti- gotische Gotik — in Wahrheit latente Renaissance. Genau in der Zeit, dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts, in der die italienische Architektur den Umschwung von der la- tenten zur offenen, von der halben zur vollen Renaissance vollzog, trat auch die nordische in eine neue Epoche ein. Man nennt sie herkömmlich die Spätgotik, womit aber nur die eine, und zwar nicht die ausschlaggebende Seite ihres Wesens gekenn- zeichnet ist. In der gotischen Formensprache, die sie beibehält, immerhin mit starken Veränderungen im einzelnen, drückt sie

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/50>, abgerufen am 21.11.2024.