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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Wer sich näher über das Werk unterrichten will, lese die vor-
trefflichen Aufsätze von H. Hettner in den "Italienischen Studien"
1879 und von E. Dobbert im "Repertorium für Kunstwissenschaft"
IV, 1881. Hier genügt es, eine übersichtliche Erklärung voraus-
zuschicken.

Es ist nicht anders zu nennen als eine gemalte Predigt, was
wir vor uns haben, eine Predigt auf das Thema: memento mori.
Aber mit staunenswerter Genialität ist das Unkünstlerische, das
in der didaktischen Tendenz liegt, überwunden. Der unbekannte
große Meister zwingt uns, nicht nur den Gedankenreichtum, die
Vielseitigkeit, die Tiefe seiner Konzeption zu bewundern, sondern
ihm ist das Höchste gelungen: die Lehre und Ermahnung ist in
lauter lebendiges Geschehen umgesetzt; das Auge sieht und so-
gleich ist das Herz im Innersten erschüttert; und haben wir so
den Umkreis drastischer Szenen durchmessen, so stellt die zu-
sammenfassende Reflexion sich ganz von selber ein. -- Wir er-
blicken zuerst unten links, aus der engen Schlucht des Waldgebirges
hervorkommend, eine glänzende Jagdgesellschaft, drei Gekrönte
an der Spitze, plötzlich aufgehalten durch den Anblick dreier offener
Särge, darinnen drei verwesende Leichname: eine selbst die un-
vernünftige Kreatur mit dunklem Grauen erfüllende Mahnung an
den Tod. -- Darüber, in den Szenen aus dem Einsiedlerleben,
die bewußte sittliche Vorbereitung auf ihn und hiermit die Über-
windung seines Stachels. Dann, auf der rechten Bildseite, des
Todes Walten selbst und die sich erfüllenden Geschicke der Seelen
nach der Trennung vom Leibe. Der Tod, "la morte", ein weib-
licher Dämon von grandios-schreckhafter Erscheinung, braust
über die grüne Erde daher: an den Elenden und Kranken, die
nach ihr rufen, eilt die Unerbittliche vorüber, die Lebensfreudigen,
Genießenden sind ihr liebstes Ziel; in der Mitte zwischen beiden
Gruppen das bereits vollbrachte Erntewerk der mörderischen
Sense, in dichten Reihen langhingestreckt ungezählte Tote, Mann
und Weib, Geistliche und Laien, Gerechte und Ungerechte. Und
schon eilen aus den Lüften hier die Engel, dort die Teufel herbei,
um die Seelen in Empfang zu nehmen: -- die Seelen, die, als nackte
Kinder gebildet, dem Munde mit dem letzten Atemzuge ent-

Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 15

Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Wer sich näher über das Werk unterrichten will, lese die vor-
trefflichen Aufsätze von H. Hettner in den »Italienischen Studien«
1879 und von E. Dobbert im »Repertorium für Kunstwissenschaft«
IV, 1881. Hier genügt es, eine übersichtliche Erklärung voraus-
zuschicken.

Es ist nicht anders zu nennen als eine gemalte Predigt, was
wir vor uns haben, eine Predigt auf das Thema: memento mori.
Aber mit staunenswerter Genialität ist das Unkünstlerische, das
in der didaktischen Tendenz liegt, überwunden. Der unbekannte
große Meister zwingt uns, nicht nur den Gedankenreichtum, die
Vielseitigkeit, die Tiefe seiner Konzeption zu bewundern, sondern
ihm ist das Höchste gelungen: die Lehre und Ermahnung ist in
lauter lebendiges Geschehen umgesetzt; das Auge sieht und so-
gleich ist das Herz im Innersten erschüttert; und haben wir so
den Umkreis drastischer Szenen durchmessen, so stellt die zu-
sammenfassende Reflexion sich ganz von selber ein. — Wir er-
blicken zuerst unten links, aus der engen Schlucht des Waldgebirges
hervorkommend, eine glänzende Jagdgesellschaft, drei Gekrönte
an der Spitze, plötzlich aufgehalten durch den Anblick dreier offener
Särge, darinnen drei verwesende Leichname: eine selbst die un-
vernünftige Kreatur mit dunklem Grauen erfüllende Mahnung an
den Tod. — Darüber, in den Szenen aus dem Einsiedlerleben,
die bewußte sittliche Vorbereitung auf ihn und hiermit die Über-
windung seines Stachels. Dann, auf der rechten Bildseite, des
Todes Walten selbst und die sich erfüllenden Geschicke der Seelen
nach der Trennung vom Leibe. Der Tod, »la morte«, ein weib-
licher Dämon von grandios-schreckhafter Erscheinung, braust
über die grüne Erde daher: an den Elenden und Kranken, die
nach ihr rufen, eilt die Unerbittliche vorüber, die Lebensfreudigen,
Genießenden sind ihr liebstes Ziel; in der Mitte zwischen beiden
Gruppen das bereits vollbrachte Erntewerk der mörderischen
Sense, in dichten Reihen langhingestreckt ungezählte Tote, Mann
und Weib, Geistliche und Laien, Gerechte und Ungerechte. Und
schon eilen aus den Lüften hier die Engel, dort die Teufel herbei,
um die Seelen in Empfang zu nehmen: — die Seelen, die, als nackte
Kinder gebildet, dem Munde mit dem letzten Atemzuge ent-

Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 15
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[225/0281] Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust Wer sich näher über das Werk unterrichten will, lese die vor- trefflichen Aufsätze von H. Hettner in den »Italienischen Studien« 1879 und von E. Dobbert im »Repertorium für Kunstwissenschaft« IV, 1881. Hier genügt es, eine übersichtliche Erklärung voraus- zuschicken. Es ist nicht anders zu nennen als eine gemalte Predigt, was wir vor uns haben, eine Predigt auf das Thema: memento mori. Aber mit staunenswerter Genialität ist das Unkünstlerische, das in der didaktischen Tendenz liegt, überwunden. Der unbekannte große Meister zwingt uns, nicht nur den Gedankenreichtum, die Vielseitigkeit, die Tiefe seiner Konzeption zu bewundern, sondern ihm ist das Höchste gelungen: die Lehre und Ermahnung ist in lauter lebendiges Geschehen umgesetzt; das Auge sieht und so- gleich ist das Herz im Innersten erschüttert; und haben wir so den Umkreis drastischer Szenen durchmessen, so stellt die zu- sammenfassende Reflexion sich ganz von selber ein. — Wir er- blicken zuerst unten links, aus der engen Schlucht des Waldgebirges hervorkommend, eine glänzende Jagdgesellschaft, drei Gekrönte an der Spitze, plötzlich aufgehalten durch den Anblick dreier offener Särge, darinnen drei verwesende Leichname: eine selbst die un- vernünftige Kreatur mit dunklem Grauen erfüllende Mahnung an den Tod. — Darüber, in den Szenen aus dem Einsiedlerleben, die bewußte sittliche Vorbereitung auf ihn und hiermit die Über- windung seines Stachels. Dann, auf der rechten Bildseite, des Todes Walten selbst und die sich erfüllenden Geschicke der Seelen nach der Trennung vom Leibe. Der Tod, »la morte«, ein weib- licher Dämon von grandios-schreckhafter Erscheinung, braust über die grüne Erde daher: an den Elenden und Kranken, die nach ihr rufen, eilt die Unerbittliche vorüber, die Lebensfreudigen, Genießenden sind ihr liebstes Ziel; in der Mitte zwischen beiden Gruppen das bereits vollbrachte Erntewerk der mörderischen Sense, in dichten Reihen langhingestreckt ungezählte Tote, Mann und Weib, Geistliche und Laien, Gerechte und Ungerechte. Und schon eilen aus den Lüften hier die Engel, dort die Teufel herbei, um die Seelen in Empfang zu nehmen: — die Seelen, die, als nackte Kinder gebildet, dem Munde mit dem letzten Atemzuge ent- Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 15

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/281>, abgerufen am 22.11.2024.