Ludwig Friedländer veröffentlichte vor einiger Zeit eine merkwürdige Notiz "Zu Goethes Faust" (Deutsche Rundschau 1881, Januar). Danach ist das Vor- bild zu der im Eingang zur letzten Szene des zweiten Teiles geschilderten Örtlichkeit: "Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde, heilige Anachoreten gebirgauf verteilt, ge- lagert zwischen Klüften", ferner der Chor "Waldung, sie schwankt heran -- Löwen, sie schleichen stumm" usw. nicht in literarisch vermittelten Anschauungen zu suchen, wie bis dahin die Kom- mentatoren annahmen (Monserrat oder Berg Athos oder Jesaias 65, 25), sondern -- so weist Friedländer nach, und zwar bedin- gungslos überzeugend -- in einem Gemälde, einem Werke der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts: dem von einem Nach- folger Giottos an einer Wand des Camposanto zu Pisa geschilderten Leben der thebaischen Einsiedler (Taf. 22).
Es ist eine spezifisch moderne Aufgabe, welche die kunstge- schichtliche Forschung (die literargeschichtliche natürlich ein- begriffen) darin sich stellt: das Kunstwerk als ein bedingtes und gewordenes aufzufassen, wobei das letzte und freilich immer nur annäherungsweise erreichbare Ziel bleibt, geleitet durch die erkann- ten äußeren Bedingungen in das Innere des schöpferischen Phan- tasieprozesses selbst einzudringen. Eben dieses ist auch eine der vornehmsten Aufgaben der "Goethephilologie", und es muß be- fremdlich genannt werden, daß noch so viele gebildete Deutsche, die sich Goethefreunde nennen, den Wert dieser Bemühungen nicht einsehen wollen, ja wohl mit ihrer Verspottung etwas Rechtes zu tun meinen. Verhältnismäßig am leichtesten sind die aus der Literatur selbst oder aus persönlich Erlebtem fließenden An- regungen zu erkennen, weshalb denn auch die genetische Forschung in der Hauptsache auf diese beiden Quellenkreise sich zu be- schränken pflegt. Unendlich öfter aber wird der empfangene Keim in dem neuen Boden zu einem so neuartigen Gebilde heran- gezogen, daß sein Ursprung Geheimnis bleibt. Ja, wie oft weiß der Künstler oder Dichter selbst es nicht, aus welcher Ferne, aus welchem entlegenen Winkel der Samenstaub ihm zugeweht ist, den er in seiner Phantasie aufsprießen sieht. Es muß immer
Ludwig Friedländer veröffentlichte vor einiger Zeit eine merkwürdige Notiz »Zu Goethes Faust« (Deutsche Rundschau 1881, Januar). Danach ist das Vor- bild zu der im Eingang zur letzten Szene des zweiten Teiles geschilderten Örtlichkeit: »Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde, heilige Anachoreten gebirgauf verteilt, ge- lagert zwischen Klüften«, ferner der Chor »Waldung, sie schwankt heran — Löwen, sie schleichen stumm« usw. nicht in literarisch vermittelten Anschauungen zu suchen, wie bis dahin die Kom- mentatoren annahmen (Monserrat oder Berg Athos oder Jesaias 65, 25), sondern — so weist Friedländer nach, und zwar bedin- gungslos überzeugend — in einem Gemälde, einem Werke der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts: dem von einem Nach- folger Giottos an einer Wand des Camposanto zu Pisa geschilderten Leben der thebaischen Einsiedler (Taf. 22).
Es ist eine spezifisch moderne Aufgabe, welche die kunstge- schichtliche Forschung (die literargeschichtliche natürlich ein- begriffen) darin sich stellt: das Kunstwerk als ein bedingtes und gewordenes aufzufassen, wobei das letzte und freilich immer nur annäherungsweise erreichbare Ziel bleibt, geleitet durch die erkann- ten äußeren Bedingungen in das Innere des schöpferischen Phan- tasieprozesses selbst einzudringen. Eben dieses ist auch eine der vornehmsten Aufgaben der »Goethephilologie«, und es muß be- fremdlich genannt werden, daß noch so viele gebildete Deutsche, die sich Goethefreunde nennen, den Wert dieser Bemühungen nicht einsehen wollen, ja wohl mit ihrer Verspottung etwas Rechtes zu tun meinen. Verhältnismäßig am leichtesten sind die aus der Literatur selbst oder aus persönlich Erlebtem fließenden An- regungen zu erkennen, weshalb denn auch die genetische Forschung in der Hauptsache auf diese beiden Quellenkreise sich zu be- schränken pflegt. Unendlich öfter aber wird der empfangene Keim in dem neuen Boden zu einem so neuartigen Gebilde heran- gezogen, daß sein Ursprung Geheimnis bleibt. Ja, wie oft weiß der Künstler oder Dichter selbst es nicht, aus welcher Ferne, aus welchem entlegenen Winkel der Samenstaub ihm zugeweht ist, den er in seiner Phantasie aufsprießen sieht. Es muß immer
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0279"n="[223]"/><p><hirendition="#in">L</hi>udwig Friedländer veröffentlichte vor einiger Zeit eine<lb/>
merkwürdige Notiz »Zu Goethes Faust« (Deutsche<lb/>
Rundschau 1881, Januar). Danach ist das Vor-<lb/>
bild zu der im Eingang zur letzten Szene des zweiten<lb/>
Teiles geschilderten Örtlichkeit: »Bergschluchten,<lb/>
Wald, Fels, Einöde, heilige Anachoreten gebirgauf verteilt, ge-<lb/>
lagert zwischen Klüften«, ferner der Chor »Waldung, sie schwankt<lb/>
heran — Löwen, sie schleichen stumm« usw. nicht in literarisch<lb/>
vermittelten Anschauungen zu suchen, wie bis dahin die Kom-<lb/>
mentatoren annahmen (Monserrat oder Berg Athos oder Jesaias<lb/>
65, 25), sondern — so weist Friedländer nach, und zwar bedin-<lb/>
gungslos überzeugend — in einem Gemälde, einem Werke der<lb/>
italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts: dem von einem Nach-<lb/>
folger Giottos an einer Wand des Camposanto zu Pisa geschilderten<lb/>
Leben der thebaischen Einsiedler (Taf. 22).</p><lb/><p>Es ist eine spezifisch moderne Aufgabe, welche die kunstge-<lb/>
schichtliche Forschung (die literargeschichtliche natürlich ein-<lb/>
begriffen) darin sich stellt: das Kunstwerk als ein bedingtes und<lb/>
gewordenes aufzufassen, wobei das letzte und freilich immer nur<lb/>
annäherungsweise erreichbare Ziel bleibt, geleitet durch die erkann-<lb/>
ten äußeren Bedingungen in das Innere des schöpferischen Phan-<lb/>
tasieprozesses selbst einzudringen. Eben dieses ist auch eine der<lb/>
vornehmsten Aufgaben der »Goethephilologie«, und es muß be-<lb/>
fremdlich genannt werden, daß noch so viele gebildete Deutsche,<lb/>
die sich Goethefreunde nennen, den Wert dieser Bemühungen<lb/>
nicht einsehen wollen, ja wohl mit ihrer Verspottung etwas Rechtes<lb/>
zu tun meinen. Verhältnismäßig am leichtesten sind die aus der<lb/>
Literatur selbst oder aus persönlich Erlebtem fließenden An-<lb/>
regungen zu erkennen, weshalb denn auch die genetische Forschung<lb/>
in der Hauptsache auf diese beiden Quellenkreise sich zu be-<lb/>
schränken pflegt. Unendlich öfter aber wird der empfangene<lb/>
Keim in dem neuen Boden zu einem so neuartigen Gebilde heran-<lb/>
gezogen, daß sein Ursprung Geheimnis bleibt. Ja, wie oft weiß<lb/>
der Künstler oder Dichter selbst es nicht, aus welcher Ferne,<lb/>
aus welchem entlegenen Winkel der Samenstaub ihm zugeweht<lb/>
ist, den er in seiner Phantasie aufsprießen sieht. Es muß immer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[223]/0279]
Ludwig Friedländer veröffentlichte vor einiger Zeit eine
merkwürdige Notiz »Zu Goethes Faust« (Deutsche
Rundschau 1881, Januar). Danach ist das Vor-
bild zu der im Eingang zur letzten Szene des zweiten
Teiles geschilderten Örtlichkeit: »Bergschluchten,
Wald, Fels, Einöde, heilige Anachoreten gebirgauf verteilt, ge-
lagert zwischen Klüften«, ferner der Chor »Waldung, sie schwankt
heran — Löwen, sie schleichen stumm« usw. nicht in literarisch
vermittelten Anschauungen zu suchen, wie bis dahin die Kom-
mentatoren annahmen (Monserrat oder Berg Athos oder Jesaias
65, 25), sondern — so weist Friedländer nach, und zwar bedin-
gungslos überzeugend — in einem Gemälde, einem Werke der
italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts: dem von einem Nach-
folger Giottos an einer Wand des Camposanto zu Pisa geschilderten
Leben der thebaischen Einsiedler (Taf. 22).
Es ist eine spezifisch moderne Aufgabe, welche die kunstge-
schichtliche Forschung (die literargeschichtliche natürlich ein-
begriffen) darin sich stellt: das Kunstwerk als ein bedingtes und
gewordenes aufzufassen, wobei das letzte und freilich immer nur
annäherungsweise erreichbare Ziel bleibt, geleitet durch die erkann-
ten äußeren Bedingungen in das Innere des schöpferischen Phan-
tasieprozesses selbst einzudringen. Eben dieses ist auch eine der
vornehmsten Aufgaben der »Goethephilologie«, und es muß be-
fremdlich genannt werden, daß noch so viele gebildete Deutsche,
die sich Goethefreunde nennen, den Wert dieser Bemühungen
nicht einsehen wollen, ja wohl mit ihrer Verspottung etwas Rechtes
zu tun meinen. Verhältnismäßig am leichtesten sind die aus der
Literatur selbst oder aus persönlich Erlebtem fließenden An-
regungen zu erkennen, weshalb denn auch die genetische Forschung
in der Hauptsache auf diese beiden Quellenkreise sich zu be-
schränken pflegt. Unendlich öfter aber wird der empfangene
Keim in dem neuen Boden zu einem so neuartigen Gebilde heran-
gezogen, daß sein Ursprung Geheimnis bleibt. Ja, wie oft weiß
der Künstler oder Dichter selbst es nicht, aus welcher Ferne,
aus welchem entlegenen Winkel der Samenstaub ihm zugeweht
ist, den er in seiner Phantasie aufsprießen sieht. Es muß immer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate für die Seiten 122 und 123
(2012-02-21T10:17:23Z)
Weitere Informationen:
Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.
Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [223]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/279>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.