Vasari schreibt im Leben Raphaels: "Raphael hatte zu dieser Zeit in Rom großen Ruhm erworben; und obschon er einen edlen, allgemein für schön geltenden Stil besaß und so viele Antiken in jener Stadt gesehen hatte, die er unermüdlich stu- dierte, so hatte er darum doch seinen Gestalten noch nicht eine gewisse Größe und Majestät gegeben, die er ihnen von nun an gab. Es geschah nämlich zu dieser Zeit, daß Michel- angelo dem Papst in der Kapelle jenen Skandal und den Schrecken bereitete, durch den er genötigt wurde, nach Florenz zu flüchten; daher ließ Bramante, der den Schlüssel der Kapelle hatte, seinen Freund Raphael sie sehen, damit er die Manier Michelangelos in sich aufnehmen möchte. Dieser Anblick bewirkte, daß Raphael in Sant' Agostino in Rom den Propheten Jesaias, den man dort über der heiligen Anna von Sansovino sieht und den er bereits vollendet hatte, sogleich neu machte; in diesem Werk verbesserte und vergrößerte er seinen Stil über die Maßen mit Hilfe der Werke Michelangelos, die er gesehen hatte, und gab ihnen mehr Majestät; daher dachte Michelangelo dann beim Anblick des Werkes von Ra- phael, daß Bramante ihm, wie es ja wirklich der Fall war, diesen Schaden bereitet hatte, um Raphael Nutzen und Ehre zu verschaffen.
Sicher paßt diese häßliche Geschichte, die Raphael rundweg einen geistigen Diebstahl vorwirft, schlecht zu dem sonst von Vasari einheitlich licht gestimmtem Charakterbilde des "göttlichen" Urbinaten. Die neueren Raphaelbiographen pflegen deshalb mit kurzer Erwähnung über sie wegzugehen. Sind wir aber be- rechtigt, uns so leichthin ihrer zu entledigen? Sie ist kein ano- nymer Klatsch: Vasari deutet in den Schlußworten sehr verständ- lich an, woher er sie hat: von Michelangelo selbst, zum mindesten aus dessen nächster Umgebung. Daß Michelangelo Raphael als seinen Feind ansah, ist bekannt. Noch in einem zweiundzwanzig Jahre nach dessen Tode geschriebenen Brief behauptet er, alle Schwierigkeiten, die er mit dem Papste gehabt habe, seien ihm durch Bramante und Raphael bereitet worden, und vom letzteren sagt er wegwerfend: was er von seiner Kunst verstand, hatte er von mir. Dies paßt genau zu Vasaris Erzählung. Wir werden dieselbe ernster
Vasari schreibt im Leben Raphaels: »Raphael hatte zu dieser Zeit in Rom großen Ruhm erworben; und obschon er einen edlen, allgemein für schön geltenden Stil besaß und so viele Antiken in jener Stadt gesehen hatte, die er unermüdlich stu- dierte, so hatte er darum doch seinen Gestalten noch nicht eine gewisse Größe und Majestät gegeben, die er ihnen von nun an gab. Es geschah nämlich zu dieser Zeit, daß Michel- angelo dem Papst in der Kapelle jenen Skandal und den Schrecken bereitete, durch den er genötigt wurde, nach Florenz zu flüchten; daher ließ Bramante, der den Schlüssel der Kapelle hatte, seinen Freund Raphael sie sehen, damit er die Manier Michelangelos in sich aufnehmen möchte. Dieser Anblick bewirkte, daß Raphael in Sant' Agostino in Rom den Propheten Jesaias, den man dort über der heiligen Anna von Sansovino sieht und den er bereits vollendet hatte, sogleich neu machte; in diesem Werk verbesserte und vergrößerte er seinen Stil über die Maßen mit Hilfe der Werke Michelangelos, die er gesehen hatte, und gab ihnen mehr Majestät; daher dachte Michelangelo dann beim Anblick des Werkes von Ra- phael, daß Bramante ihm, wie es ja wirklich der Fall war, diesen Schaden bereitet hatte, um Raphael Nutzen und Ehre zu verschaffen.
Sicher paßt diese häßliche Geschichte, die Raphael rundweg einen geistigen Diebstahl vorwirft, schlecht zu dem sonst von Vasari einheitlich licht gestimmtem Charakterbilde des »göttlichen« Urbinaten. Die neueren Raphaelbiographen pflegen deshalb mit kurzer Erwähnung über sie wegzugehen. Sind wir aber be- rechtigt, uns so leichthin ihrer zu entledigen? Sie ist kein ano- nymer Klatsch: Vasari deutet in den Schlußworten sehr verständ- lich an, woher er sie hat: von Michelangelo selbst, zum mindesten aus dessen nächster Umgebung. Daß Michelangelo Raphael als seinen Feind ansah, ist bekannt. Noch in einem zweiundzwanzig Jahre nach dessen Tode geschriebenen Brief behauptet er, alle Schwierigkeiten, die er mit dem Papste gehabt habe, seien ihm durch Bramante und Raphael bereitet worden, und vom letzteren sagt er wegwerfend: was er von seiner Kunst verstand, hatte er von mir. Dies paßt genau zu Vasaris Erzählung. Wir werden dieselbe ernster
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Vasari schreibt im Leben Raphaels: »Raphael hatte
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und obschon er einen edlen, allgemein für schön
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Stadt gesehen hatte, die er unermüdlich stu-
dierte, so hatte er darum doch seinen Gestalten noch nicht
eine gewisse Größe und Majestät gegeben, die er ihnen von
nun an gab. Es geschah nämlich zu dieser Zeit, daß Michel-
angelo dem Papst in der Kapelle jenen Skandal und den Schrecken
bereitete, durch den er genötigt wurde, nach Florenz zu flüchten;
daher ließ Bramante, der den Schlüssel der Kapelle hatte, seinen
Freund Raphael sie sehen, damit er die Manier Michelangelos
in sich aufnehmen möchte. Dieser Anblick bewirkte, daß Raphael
in Sant' Agostino in Rom den Propheten Jesaias, den man dort
über der heiligen Anna von Sansovino sieht und den er bereits
vollendet hatte, sogleich neu machte; in diesem Werk verbesserte
und vergrößerte er seinen Stil über die Maßen mit Hilfe der Werke
Michelangelos, die er gesehen hatte, und gab ihnen mehr Majestät;
daher dachte Michelangelo dann beim Anblick des Werkes von Ra-
phael, daß Bramante ihm, wie es ja wirklich der Fall war, diesen
Schaden bereitet hatte, um Raphael Nutzen und Ehre zu verschaffen.
Sicher paßt diese häßliche Geschichte, die Raphael rundweg
einen geistigen Diebstahl vorwirft, schlecht zu dem sonst von Vasari
einheitlich licht gestimmtem Charakterbilde des »göttlichen«
Urbinaten. Die neueren Raphaelbiographen pflegen deshalb
mit kurzer Erwähnung über sie wegzugehen. Sind wir aber be-
rechtigt, uns so leichthin ihrer zu entledigen? Sie ist kein ano-
nymer Klatsch: Vasari deutet in den Schlußworten sehr verständ-
lich an, woher er sie hat: von Michelangelo selbst, zum mindesten
aus dessen nächster Umgebung. Daß Michelangelo Raphael als
seinen Feind ansah, ist bekannt. Noch in einem zweiundzwanzig
Jahre nach dessen Tode geschriebenen Brief behauptet er, alle
Schwierigkeiten, die er mit dem Papste gehabt habe, seien ihm durch
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [213]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/265>, abgerufen am 24.11.2024.
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