Die Städtische Gemäldesammlung in Straßburg hat vor einiger Zeit in England sechs farbige Kartons mit Köpfen aus Lionardos Abendmahl (Taf. 15--19) erworben. Indem ich dies sage, wird jeder sogleich an die berühmten Blätter im Besitz der Frau Groß- herzogin von Weimar denken; und in der Tat sind die Straßburger Stücke den Weimarern im allgemeinen Eindruck sehr ähnlich. Von diesem Verhältnis hat die Kritik auszugehen. Sind die Weimarer Exemplare wirklich, wie viele glauben, Originale von der Hand Lio- nardos, so müssen die Straßburger selbstverständlich Kopien nach ihnen sein, und es bliebe nur die Frage nach der Zeit ihrer Ent- stehung zu erörtern übrig. Haben dagegen die andern recht, welche das Weimarer Exemplar nicht sowohl als Vorbereitung zu, denn als Kopie nach dem Wandgemälde des Mailänder Klosterrefektoriums ansehen, dann tritt die Untersuchung des Verhältnisses unter viel kompliziertere Bedingungen.
Die Besitztradition reicht nicht weit zurück. Auffallend ist dabei, daß beide Exemplare aus England stammen. Die Anno- tatoren zu Vasari wissen aus der älteren italienischen Überlieferung nur ein Exemplar anzuführen, das nach mehrfachem Wechsel zuletzt (es scheint, daß das Ende des 18. Jahrhunderts gemeint ist) an die Familie Sagredo in Venedig kam und von dieser an den englischen Konsul Uduny verkauft wurde, welcher sie wieder an zwei Maler, Landsleute von ihm, vermachte, derart, daß der eine zehn, der andere drei von den Köpfen erhielt. Hier bricht die Tradition ab. Daß Sir Thomas Lawrence seine acht Blätter, die in der Tat zehn Köpfe enthalten, von dem einen der obgenannten Maler erworben habe, scheint bloße Kombination zu sein. Nach Lawrences Tode kamen sie an den König der Nieder- lande, von diesem an seine Tochter, die jetzige hohe Besitzerin.
Bei solcher Sachlage hat sich die Untersuchung allein an die technischen und stilistischen Kriterien zu halten. Gefühlsurteile, wie sie unlängst H. Thode in einem feurigen Lobgesang auf die Weimarer Blätter vorgetragen hat, sind niemanden verwehrt, haben aber das Mißliche, daß dritte Personen damit vielleicht überredet, nie überzeugt werden können. Sehen wir also zu,
Die Städtische Gemäldesammlung in Straßburg hat vor einiger Zeit in England sechs farbige Kartons mit Köpfen aus Lionardos Abendmahl (Taf. 15—19) erworben. Indem ich dies sage, wird jeder sogleich an die berühmten Blätter im Besitz der Frau Groß- herzogin von Weimar denken; und in der Tat sind die Straßburger Stücke den Weimarern im allgemeinen Eindruck sehr ähnlich. Von diesem Verhältnis hat die Kritik auszugehen. Sind die Weimarer Exemplare wirklich, wie viele glauben, Originale von der Hand Lio- nardos, so müssen die Straßburger selbstverständlich Kopien nach ihnen sein, und es bliebe nur die Frage nach der Zeit ihrer Ent- stehung zu erörtern übrig. Haben dagegen die andern recht, welche das Weimarer Exemplar nicht sowohl als Vorbereitung zu, denn als Kopie nach dem Wandgemälde des Mailänder Klosterrefektoriums ansehen, dann tritt die Untersuchung des Verhältnisses unter viel kompliziertere Bedingungen.
Die Besitztradition reicht nicht weit zurück. Auffallend ist dabei, daß beide Exemplare aus England stammen. Die Anno- tatoren zu Vasari wissen aus der älteren italienischen Überlieferung nur ein Exemplar anzuführen, das nach mehrfachem Wechsel zuletzt (es scheint, daß das Ende des 18. Jahrhunderts gemeint ist) an die Familie Sagredo in Venedig kam und von dieser an den englischen Konsul Uduny verkauft wurde, welcher sie wieder an zwei Maler, Landsleute von ihm, vermachte, derart, daß der eine zehn, der andere drei von den Köpfen erhielt. Hier bricht die Tradition ab. Daß Sir Thomas Lawrence seine acht Blätter, die in der Tat zehn Köpfe enthalten, von dem einen der obgenannten Maler erworben habe, scheint bloße Kombination zu sein. Nach Lawrences Tode kamen sie an den König der Nieder- lande, von diesem an seine Tochter, die jetzige hohe Besitzerin.
Bei solcher Sachlage hat sich die Untersuchung allein an die technischen und stilistischen Kriterien zu halten. Gefühlsurteile, wie sie unlängst H. Thode in einem feurigen Lobgesang auf die Weimarer Blätter vorgetragen hat, sind niemanden verwehrt, haben aber das Mißliche, daß dritte Personen damit vielleicht überredet, nie überzeugt werden können. Sehen wir also zu,
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Die Städtische Gemäldesammlung in Straßburg hat
vor einiger Zeit in England sechs farbige Kartons
mit Köpfen aus Lionardos Abendmahl (Taf. 15—19)
erworben. Indem ich dies sage, wird jeder sogleich
an die berühmten Blätter im Besitz der Frau Groß-
herzogin von Weimar denken; und in der Tat sind die Straßburger
Stücke den Weimarern im allgemeinen Eindruck sehr ähnlich. Von
diesem Verhältnis hat die Kritik auszugehen. Sind die Weimarer
Exemplare wirklich, wie viele glauben, Originale von der Hand Lio-
nardos, so müssen die Straßburger selbstverständlich Kopien nach
ihnen sein, und es bliebe nur die Frage nach der Zeit ihrer Ent-
stehung zu erörtern übrig. Haben dagegen die andern recht, welche
das Weimarer Exemplar nicht sowohl als Vorbereitung zu, denn als
Kopie nach dem Wandgemälde des Mailänder Klosterrefektoriums
ansehen, dann tritt die Untersuchung des Verhältnisses unter
viel kompliziertere Bedingungen.
Die Besitztradition reicht nicht weit zurück. Auffallend ist
dabei, daß beide Exemplare aus England stammen. Die Anno-
tatoren zu Vasari wissen aus der älteren italienischen Überlieferung
nur ein Exemplar anzuführen, das nach mehrfachem Wechsel
zuletzt (es scheint, daß das Ende des 18. Jahrhunderts gemeint
ist) an die Familie Sagredo in Venedig kam und von dieser
an den englischen Konsul Uduny verkauft wurde, welcher sie
wieder an zwei Maler, Landsleute von ihm, vermachte, derart,
daß der eine zehn, der andere drei von den Köpfen erhielt. Hier
bricht die Tradition ab. Daß Sir Thomas Lawrence seine acht
Blätter, die in der Tat zehn Köpfe enthalten, von dem einen der
obgenannten Maler erworben habe, scheint bloße Kombination
zu sein. Nach Lawrences Tode kamen sie an den König der Nieder-
lande, von diesem an seine Tochter, die jetzige hohe Besitzerin.
Bei solcher Sachlage hat sich die Untersuchung allein an die
technischen und stilistischen Kriterien zu halten. Gefühlsurteile,
wie sie unlängst H. Thode in einem feurigen Lobgesang auf die
Weimarer Blätter vorgetragen hat, sind niemanden verwehrt,
haben aber das Mißliche, daß dritte Personen damit vielleicht
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [189]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/231>, abgerufen am 25.11.2024.
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