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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
Aufwallungen der Bilderstürmer sind unter anderem Gesichts-
punkte zu beurteilen --, sie hat die Hinterlassenschaft des Mittel-
alters sogar schonender behandelt als der Neukatholizismus, woher
es z. B. kommt, daß wir heute intakte mittelalterliche Altäre
weitaus am häufigsten in protestantischen, genauer lutherischen,
Landschaften finden, in Altwürttemberg, Sachsen, Mecklenburg
und Holstein. Aber -- dies waren für den Protestantismus doch
nur Antiquitäten. In seinem eigenen Ideenkreise war nichts, das
nach bildkünstlerischem Ausdruck verlangt hätte. Wenn er nach
Abbruch der alten Traditionen eine neue kirchliche Kunst sich
hätte aufbauen sollen, auf welchem Boden und aus welchen Stoffen
hätte das geschehen können? Daß eine Kirche, welche Mythologie
und Symbolik, also die beiden Hauptquellen der mittelalterlichen
Kunst, für heidnische Greuel erklärt, welche in ihrem Gottesdienst
auf die Mitwirkung der Sinne und der Phantasie verzichtet, welche
das gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt, welche die guten
Werke verdammt und folglich auch für fromme Stiftungen keinen
Anreiz mehr bietet -- daß eine so gewandelte Kirche die bildende
Kunst nicht nötig hatte, höchstens nebenher einen schmalen Raum
ihr übriglassen konnte, ist so selbstverständlich, daß darüber
kein Wort zu verlieren ist. Die Reformation, ich wiederhole es,
war nicht der bildenden Kunst feindlich, aber sie war der Kunst
unbedürftig; sie glich darin, bewußt oder unbewußt, dem Ur-
christentum. Überhaupt war ja die große Stellung der Kunst
im mittelalterlichen Kirchenwesen gar keine Forderung des christ-
lichen Geistes, sondern eine Forderung der in das Christentum
aufgenommenen griechischen Bildung gewesen, wodurch die merk-
würdige Antinomie entsteht, daß der letzte noch in unmittelbarer
Kontinuität aus der Antike herstammende Kulturbesitz unserer
Nation aufgegeben wurde in demselben Augenblick, in dem sie
sich unter der Form des Humanismus wieder vertrauensvoll der
antiken Bildungsquelle zuwendete. Und noch eine zweite Anti-
nomie, die uns an einer früheren Stelle unserer Betrachtung rätsel-
haft erschien, erklärt sich auf diese Weise: jene, daß die Reforma-
tion, die doch zweifellos den religiösen Idealismus in unserem
Volksleben gestärkt hat, durch die Kunst ihrer Zeit einseitig

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
Aufwallungen der Bilderstürmer sind unter anderem Gesichts-
punkte zu beurteilen —, sie hat die Hinterlassenschaft des Mittel-
alters sogar schonender behandelt als der Neukatholizismus, woher
es z. B. kommt, daß wir heute intakte mittelalterliche Altäre
weitaus am häufigsten in protestantischen, genauer lutherischen,
Landschaften finden, in Altwürttemberg, Sachsen, Mecklenburg
und Holstein. Aber — dies waren für den Protestantismus doch
nur Antiquitäten. In seinem eigenen Ideenkreise war nichts, das
nach bildkünstlerischem Ausdruck verlangt hätte. Wenn er nach
Abbruch der alten Traditionen eine neue kirchliche Kunst sich
hätte aufbauen sollen, auf welchem Boden und aus welchen Stoffen
hätte das geschehen können? Daß eine Kirche, welche Mythologie
und Symbolik, also die beiden Hauptquellen der mittelalterlichen
Kunst, für heidnische Greuel erklärt, welche in ihrem Gottesdienst
auf die Mitwirkung der Sinne und der Phantasie verzichtet, welche
das gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt, welche die guten
Werke verdammt und folglich auch für fromme Stiftungen keinen
Anreiz mehr bietet — daß eine so gewandelte Kirche die bildende
Kunst nicht nötig hatte, höchstens nebenher einen schmalen Raum
ihr übriglassen konnte, ist so selbstverständlich, daß darüber
kein Wort zu verlieren ist. Die Reformation, ich wiederhole es,
war nicht der bildenden Kunst feindlich, aber sie war der Kunst
unbedürftig; sie glich darin, bewußt oder unbewußt, dem Ur-
christentum. Überhaupt war ja die große Stellung der Kunst
im mittelalterlichen Kirchenwesen gar keine Forderung des christ-
lichen Geistes, sondern eine Forderung der in das Christentum
aufgenommenen griechischen Bildung gewesen, wodurch die merk-
würdige Antinomie entsteht, daß der letzte noch in unmittelbarer
Kontinuität aus der Antike herstammende Kulturbesitz unserer
Nation aufgegeben wurde in demselben Augenblick, in dem sie
sich unter der Form des Humanismus wieder vertrauensvoll der
antiken Bildungsquelle zuwendete. Und noch eine zweite Anti-
nomie, die uns an einer früheren Stelle unserer Betrachtung rätsel-
haft erschien, erklärt sich auf diese Weise: jene, daß die Reforma-
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Volksleben gestärkt hat, durch die Kunst ihrer Zeit einseitig

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[155/0197] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert Aufwallungen der Bilderstürmer sind unter anderem Gesichts- punkte zu beurteilen —, sie hat die Hinterlassenschaft des Mittel- alters sogar schonender behandelt als der Neukatholizismus, woher es z. B. kommt, daß wir heute intakte mittelalterliche Altäre weitaus am häufigsten in protestantischen, genauer lutherischen, Landschaften finden, in Altwürttemberg, Sachsen, Mecklenburg und Holstein. Aber — dies waren für den Protestantismus doch nur Antiquitäten. In seinem eigenen Ideenkreise war nichts, das nach bildkünstlerischem Ausdruck verlangt hätte. Wenn er nach Abbruch der alten Traditionen eine neue kirchliche Kunst sich hätte aufbauen sollen, auf welchem Boden und aus welchen Stoffen hätte das geschehen können? Daß eine Kirche, welche Mythologie und Symbolik, also die beiden Hauptquellen der mittelalterlichen Kunst, für heidnische Greuel erklärt, welche in ihrem Gottesdienst auf die Mitwirkung der Sinne und der Phantasie verzichtet, welche das gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt, welche die guten Werke verdammt und folglich auch für fromme Stiftungen keinen Anreiz mehr bietet — daß eine so gewandelte Kirche die bildende Kunst nicht nötig hatte, höchstens nebenher einen schmalen Raum ihr übriglassen konnte, ist so selbstverständlich, daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Die Reformation, ich wiederhole es, war nicht der bildenden Kunst feindlich, aber sie war der Kunst unbedürftig; sie glich darin, bewußt oder unbewußt, dem Ur- christentum. Überhaupt war ja die große Stellung der Kunst im mittelalterlichen Kirchenwesen gar keine Forderung des christ- lichen Geistes, sondern eine Forderung der in das Christentum aufgenommenen griechischen Bildung gewesen, wodurch die merk- würdige Antinomie entsteht, daß der letzte noch in unmittelbarer Kontinuität aus der Antike herstammende Kulturbesitz unserer Nation aufgegeben wurde in demselben Augenblick, in dem sie sich unter der Form des Humanismus wieder vertrauensvoll der antiken Bildungsquelle zuwendete. Und noch eine zweite Anti- nomie, die uns an einer früheren Stelle unserer Betrachtung rätsel- haft erschien, erklärt sich auf diese Weise: jene, daß die Reforma- tion, die doch zweifellos den religiösen Idealismus in unserem Volksleben gestärkt hat, durch die Kunst ihrer Zeit einseitig

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/197>, abgerufen am 25.11.2024.