Was ich über Backofen gesagt habe, wird manchem Leser so geklungen haben, als müsse nun der Schlußsatz lauten: Backofen war der erste Renaissancebildhauer in Deutschland. Ihn als solchen zu proklamieren, ist meine Absicht nicht. Wo ist aber dann sein Platz in der Stilbewegung seiner Zeit? Wir treten mit dieser Frage auf ein Gebiet peinlichster Unsicherheit der Grundbegriffe. Es wird mir nicht möglich sein, meine Meinung über Backofen zu be- gründen, wenn ich nicht zuvor meine Stellung zu diesen Grund- begriffen formuliert habe. -- Was ist Renaissance? Was ist Spät- gotik? Die eine Frage ist von der andern nicht zu lösen. Es gibt unerschrockene Pragmatiker, welche alles, was man früher Spät- gotik nannte, jetzt zur Renaissance schlagen wollen; es gibt andere, in deren Augen noch das ganze XVI. Jahrhundert von Spätgotik erfüllt ist, wenn auch unter einer Renaissanceverkleidung. Ich kann mich weder zu den einen noch zu den anderen halten. Der Erb- fehler ist, daß man es mit einem einfachen Entweder-Oder zu tun zu haben meint. Ich finde im XV. wie im XVI. Jahrhundert Er- scheinungen, und zwar in zusammenhängender Reihe, die ohne Gewaltsamkeit oder Gedankenlosigkeit, weder aus dem Stilprinzip der Gotik noch aus dem der Renaissance erklärt werden können. Sie bedeuten ein drittes. Es begleitet und modifiziert die letzte Phase der Gotik, es begleitet und modifiziert erst recht die Renais- sance, es führt in gerader Linie zum Barock. Und von diesem End- punkt aus fällt, wie mich dünkt, ein helleres Licht über den inneren Zusammenhang der Dinge. Die entscheidende Zäsur in der Ge- schichte der nordischen Baukunst -- das ist auch meine Meinung -- liegt nicht erst im XVI., sondern schon im XV. Jahrhundert. Unter der Hülle absterbender, aus ihrem Organismus gelöster Formeln regt sich ein starkes neues Leben. Aber man verkennt völlig das Gesetz desselben, wenn man es für wesensverwandt mit derjenigen Kunst ansieht, deren Achse zwischen Brunnelleschi und Bramante liegt und die allein Renaissance heißen darf; es ist wesensverwandt mit dem Barock. Entschließt man sich, unter "Barock", wozu die Ansätze auch schon mehrfach gemacht sind1),
1) Dehio und v. Bezold, Die kirchliche Baukunst II, S. 190.
Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Was ich über Backofen gesagt habe, wird manchem Leser so geklungen haben, als müsse nun der Schlußsatz lauten: Backofen war der erste Renaissancebildhauer in Deutschland. Ihn als solchen zu proklamieren, ist meine Absicht nicht. Wo ist aber dann sein Platz in der Stilbewegung seiner Zeit? Wir treten mit dieser Frage auf ein Gebiet peinlichster Unsicherheit der Grundbegriffe. Es wird mir nicht möglich sein, meine Meinung über Backofen zu be- gründen, wenn ich nicht zuvor meine Stellung zu diesen Grund- begriffen formuliert habe. — Was ist Renaissance? Was ist Spät- gotik? Die eine Frage ist von der andern nicht zu lösen. Es gibt unerschrockene Pragmatiker, welche alles, was man früher Spät- gotik nannte, jetzt zur Renaissance schlagen wollen; es gibt andere, in deren Augen noch das ganze XVI. Jahrhundert von Spätgotik erfüllt ist, wenn auch unter einer Renaissanceverkleidung. Ich kann mich weder zu den einen noch zu den anderen halten. Der Erb- fehler ist, daß man es mit einem einfachen Entweder-Oder zu tun zu haben meint. Ich finde im XV. wie im XVI. Jahrhundert Er- scheinungen, und zwar in zusammenhängender Reihe, die ohne Gewaltsamkeit oder Gedankenlosigkeit, weder aus dem Stilprinzip der Gotik noch aus dem der Renaissance erklärt werden können. Sie bedeuten ein drittes. Es begleitet und modifiziert die letzte Phase der Gotik, es begleitet und modifiziert erst recht die Renais- sance, es führt in gerader Linie zum Barock. Und von diesem End- punkt aus fällt, wie mich dünkt, ein helleres Licht über den inneren Zusammenhang der Dinge. Die entscheidende Zäsur in der Ge- schichte der nordischen Baukunst — das ist auch meine Meinung — liegt nicht erst im XVI., sondern schon im XV. Jahrhundert. Unter der Hülle absterbender, aus ihrem Organismus gelöster Formeln regt sich ein starkes neues Leben. Aber man verkennt völlig das Gesetz desselben, wenn man es für wesensverwandt mit derjenigen Kunst ansieht, deren Achse zwischen Brunnelleschi und Bramante liegt und die allein Renaissance heißen darf; es ist wesensverwandt mit dem Barock. Entschließt man sich, unter »Barock«, wozu die Ansätze auch schon mehrfach gemacht sind1),
1) Dehio und v. Bezold, Die kirchliche Baukunst II, S. 190.
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Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Was ich über Backofen gesagt habe, wird manchem Leser so
geklungen haben, als müsse nun der Schlußsatz lauten: Backofen
war der erste Renaissancebildhauer in Deutschland. Ihn als solchen
zu proklamieren, ist meine Absicht nicht. Wo ist aber dann sein
Platz in der Stilbewegung seiner Zeit? Wir treten mit dieser Frage
auf ein Gebiet peinlichster Unsicherheit der Grundbegriffe. Es
wird mir nicht möglich sein, meine Meinung über Backofen zu be-
gründen, wenn ich nicht zuvor meine Stellung zu diesen Grund-
begriffen formuliert habe. — Was ist Renaissance? Was ist Spät-
gotik? Die eine Frage ist von der andern nicht zu lösen. Es gibt
unerschrockene Pragmatiker, welche alles, was man früher Spät-
gotik nannte, jetzt zur Renaissance schlagen wollen; es gibt andere,
in deren Augen noch das ganze XVI. Jahrhundert von Spätgotik
erfüllt ist, wenn auch unter einer Renaissanceverkleidung. Ich kann
mich weder zu den einen noch zu den anderen halten. Der Erb-
fehler ist, daß man es mit einem einfachen Entweder-Oder zu tun
zu haben meint. Ich finde im XV. wie im XVI. Jahrhundert Er-
scheinungen, und zwar in zusammenhängender Reihe, die ohne
Gewaltsamkeit oder Gedankenlosigkeit, weder aus dem Stilprinzip
der Gotik noch aus dem der Renaissance erklärt werden können.
Sie bedeuten ein drittes. Es begleitet und modifiziert die letzte
Phase der Gotik, es begleitet und modifiziert erst recht die Renais-
sance, es führt in gerader Linie zum Barock. Und von diesem End-
punkt aus fällt, wie mich dünkt, ein helleres Licht über den inneren
Zusammenhang der Dinge. Die entscheidende Zäsur in der Ge-
schichte der nordischen Baukunst — das ist auch meine Meinung
— liegt nicht erst im XVI., sondern schon im XV. Jahrhundert.
Unter der Hülle absterbender, aus ihrem Organismus gelöster
Formeln regt sich ein starkes neues Leben. Aber man verkennt
völlig das Gesetz desselben, wenn man es für wesensverwandt
mit derjenigen Kunst ansieht, deren Achse zwischen Brunnelleschi
und Bramante liegt und die allein Renaissance heißen darf; es
ist wesensverwandt mit dem Barock. Entschließt man sich, unter
»Barock«, wozu die Ansätze auch schon mehrfach gemacht sind 1),
1) Dehio und v. Bezold, Die kirchliche Baukunst II, S. 190.
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/172>, abgerufen am 22.11.2024.
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