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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Massen. Quer durch die Höhenentwicklung dreimal tiefe Schatten-
akzente. So nervige Greifhände als die, mit denen Kurfürst Bert-
hold sein Gebetbuch umspannt, sucht man bei Riemenschneider
überall umsonst. Und nun der uns schon wohlbekannte Bischofs-
stab1) in drei Exemplaren, wenn man die Statuetten des Rahmen-
werks hinzunimmt, und die ebenso wohlbekannten Putten! Back-
ofen hat es uns wirklich nicht schwer gemacht, ihn zu erkennen2).

Schließlich erwähne ich, als den drei Denkmälern des Mainzer
Domes gemeinsam, die gegen das Gotische speziell neue Auffassung
des Verhältnisses von Körper und Gewand. Alle gotischen Gestalten,
auch die spätesten und freiesten, wie die Riemenschneiders, sind
und bleiben Draperiefiguren, d. h. die Gewandung ist das Maß-
gebende für den Eindruck, und der Körper verschwindet hinter
ihr, wie etwas vergleichsweise Wesenloses; jedenfalls ist sie das,
was in der Phantasie des Künstlers zuerst Gestalt gewinnt. Backofen
ist der erste deutsche Plastiker, der den Körper zuvor fühlt, der
ihn als das Bedingende, und das Gewand, wie reich immer, als das
Bedingte darstellt. Im Henneberg rüttelt er noch an der alten
Schranke; im Liebenstein ist sie gefallen. In heiterer Sicherheit
steht der Kirchenfürst da, in vollkommen natürlicher, freier, dem
Beschauer faßlich gemachter Gewichtsausgleichung der Teile.
Seit langer Zeit zum erstenmal eine deutsche Arbeit ohne jeglichen
Rest von Spießbürgerlichkeit. Und schließlich, im Gemmingendenk-
mal, der Schritt ins Heroische.

1) Die Platte des eigentlichen Grabes ist noch erhalten. Sie gibt noch
einmal die Bildnisfigur des Verstorbenen. Aber ganz deutlich nicht von
Backofens Hand. Und sogleich hat auch der Hirtenstab ein ganz anderes,
spätgotisches Gepräge.
2) Trotzdem war die bisherige Zuschreibung an Riemenschneider, wie
mich dünkt, nicht ganz auf falscher Fährte. Wenn ich mich frage, aus
welcher Schule wohl Backofen hervorgegangen sein möchte, so weiß ich
keine zu nennen, die besser dazu paßte als die unterfränkische. Auch
ein äußerlicher Umstand scheint dies hypothetisch zu bestätigen. Sein
Geburtsort war, laut der Testamentsinschrift, Sulzbach. Es gibt in Deutsch-
land zwar ein halbes Dutzend Orte dieses Namens. Aber nur einer steht
in näherer Beziehung zu Mainz: das Sulzbach bei Aschaffenburg, auf kur-
fürstlichem Territorium gelegen.

Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Massen. Quer durch die Höhenentwicklung dreimal tiefe Schatten-
akzente. So nervige Greifhände als die, mit denen Kurfürst Bert-
hold sein Gebetbuch umspannt, sucht man bei Riemenschneider
überall umsonst. Und nun der uns schon wohlbekannte Bischofs-
stab1) in drei Exemplaren, wenn man die Statuetten des Rahmen-
werks hinzunimmt, und die ebenso wohlbekannten Putten! Back-
ofen hat es uns wirklich nicht schwer gemacht, ihn zu erkennen2).

Schließlich erwähne ich, als den drei Denkmälern des Mainzer
Domes gemeinsam, die gegen das Gotische speziell neue Auffassung
des Verhältnisses von Körper und Gewand. Alle gotischen Gestalten,
auch die spätesten und freiesten, wie die Riemenschneiders, sind
und bleiben Draperiefiguren, d. h. die Gewandung ist das Maß-
gebende für den Eindruck, und der Körper verschwindet hinter
ihr, wie etwas vergleichsweise Wesenloses; jedenfalls ist sie das,
was in der Phantasie des Künstlers zuerst Gestalt gewinnt. Backofen
ist der erste deutsche Plastiker, der den Körper zuvor fühlt, der
ihn als das Bedingende, und das Gewand, wie reich immer, als das
Bedingte darstellt. Im Henneberg rüttelt er noch an der alten
Schranke; im Liebenstein ist sie gefallen. In heiterer Sicherheit
steht der Kirchenfürst da, in vollkommen natürlicher, freier, dem
Beschauer faßlich gemachter Gewichtsausgleichung der Teile.
Seit langer Zeit zum erstenmal eine deutsche Arbeit ohne jeglichen
Rest von Spießbürgerlichkeit. Und schließlich, im Gemmingendenk-
mal, der Schritt ins Heroische.

1) Die Platte des eigentlichen Grabes ist noch erhalten. Sie gibt noch
einmal die Bildnisfigur des Verstorbenen. Aber ganz deutlich nicht von
Backofens Hand. Und sogleich hat auch der Hirtenstab ein ganz anderes,
spätgotisches Gepräge.
2) Trotzdem war die bisherige Zuschreibung an Riemenschneider, wie
mich dünkt, nicht ganz auf falscher Fährte. Wenn ich mich frage, aus
welcher Schule wohl Backofen hervorgegangen sein möchte, so weiß ich
keine zu nennen, die besser dazu paßte als die unterfränkische. Auch
ein äußerlicher Umstand scheint dies hypothetisch zu bestätigen. Sein
Geburtsort war, laut der Testamentsinschrift, Sulzbach. Es gibt in Deutsch-
land zwar ein halbes Dutzend Orte dieses Namens. Aber nur einer steht
in näherer Beziehung zu Mainz: das Sulzbach bei Aschaffenburg, auf kur-
fürstlichem Territorium gelegen.
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[139/0171] Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom Massen. Quer durch die Höhenentwicklung dreimal tiefe Schatten- akzente. So nervige Greifhände als die, mit denen Kurfürst Bert- hold sein Gebetbuch umspannt, sucht man bei Riemenschneider überall umsonst. Und nun der uns schon wohlbekannte Bischofs- stab 1) in drei Exemplaren, wenn man die Statuetten des Rahmen- werks hinzunimmt, und die ebenso wohlbekannten Putten! Back- ofen hat es uns wirklich nicht schwer gemacht, ihn zu erkennen 2). Schließlich erwähne ich, als den drei Denkmälern des Mainzer Domes gemeinsam, die gegen das Gotische speziell neue Auffassung des Verhältnisses von Körper und Gewand. Alle gotischen Gestalten, auch die spätesten und freiesten, wie die Riemenschneiders, sind und bleiben Draperiefiguren, d. h. die Gewandung ist das Maß- gebende für den Eindruck, und der Körper verschwindet hinter ihr, wie etwas vergleichsweise Wesenloses; jedenfalls ist sie das, was in der Phantasie des Künstlers zuerst Gestalt gewinnt. Backofen ist der erste deutsche Plastiker, der den Körper zuvor fühlt, der ihn als das Bedingende, und das Gewand, wie reich immer, als das Bedingte darstellt. Im Henneberg rüttelt er noch an der alten Schranke; im Liebenstein ist sie gefallen. In heiterer Sicherheit steht der Kirchenfürst da, in vollkommen natürlicher, freier, dem Beschauer faßlich gemachter Gewichtsausgleichung der Teile. Seit langer Zeit zum erstenmal eine deutsche Arbeit ohne jeglichen Rest von Spießbürgerlichkeit. Und schließlich, im Gemmingendenk- mal, der Schritt ins Heroische. 1) Die Platte des eigentlichen Grabes ist noch erhalten. Sie gibt noch einmal die Bildnisfigur des Verstorbenen. Aber ganz deutlich nicht von Backofens Hand. Und sogleich hat auch der Hirtenstab ein ganz anderes, spätgotisches Gepräge. 2) Trotzdem war die bisherige Zuschreibung an Riemenschneider, wie mich dünkt, nicht ganz auf falscher Fährte. Wenn ich mich frage, aus welcher Schule wohl Backofen hervorgegangen sein möchte, so weiß ich keine zu nennen, die besser dazu paßte als die unterfränkische. Auch ein äußerlicher Umstand scheint dies hypothetisch zu bestätigen. Sein Geburtsort war, laut der Testamentsinschrift, Sulzbach. Es gibt in Deutsch- land zwar ein halbes Dutzend Orte dieses Namens. Aber nur einer steht in näherer Beziehung zu Mainz: das Sulzbach bei Aschaffenburg, auf kur- fürstlichem Territorium gelegen.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/171>, abgerufen am 25.11.2024.