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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Bogenöffnungen ahnen: wir fühlen mit, was jenseits des Rahmens
liegt. Wiederum echt malerisch gedacht ist nach der linken Seite
hin die Erweiterung des Bogenganges durch ein Nebenschiff. Die
hier vorkommende doppelte Überschneidung des Wandaltars durch
die vor ihm stehende Deckenstütze und durch den Schlagschatten
des darauf folgenden Säulenbündels ist von frappantester Wir-
kung -- nach dem Maßstabe der historischen Entwicklung der
malerischen Darstellungsmittel eine Kühnheit ersten Ranges. Die
Reproduktion gibt doch nur eine unvollkommene Vorstellung da-
von, wie frei auf dem Gemälde hier alles in der Luft steht, wie
klar die Gegenstände vor- und zurücktreten. Mit diesem teilweisen
Verdecken wird viel mehr gesagt, als die in solchen Fällen schein-
bar größere "Deutlichkeit" des mittelalterlichen Stiles jemals es
konnte. Von köstlicher Naivetät ist dann die Behandlung des
an der unteren Bildecke rechts einbrechenden Schlagschattens; ihn
über das vielfach gebrochene Gewand Katharinens hinzuführen
schien unserem Meister noch unmöglich; so läßt er die Heilige
einfach auf dem Schatten sitzen! Ihr Rad aber, das sie als ihr
Attribut überallhin begleitet, ist wieder sorglich so gelegt, daß
sich sein Schattenbild sauber und scharf auf dem Boden
abzeichnet. -- Zu der Entdeckung der Schlagschatten macht
Witz die andere des zurückgeworfenen Lichtes. Ich wüßte
keinen Niederländer dieser Zeit, bei dem etwas Ähnliches vorkäme,
wie auf unserem Bilde der von Katharinens Gebetbuch abprallende,
die dunkle Seite von Wange und Nasenspitze mit einem hellen
Rande auflichtende Reflex (in der Reproduktion wieder nicht zu
voller Wirkung gekommen). -- Noch aber ist Witz mit seinen Mit-
teln nicht zu Ende. Er hat an der Tiefe des Kreuzganges nicht
genug, er lockt uns zur Tür hinaus auf die Straße, wo eine höchst
belebte Szene, ein Bild im Bilde gleichsam, sich auftut. Demon-
strativ ist es auf der Fläche des Gemäldes dicht neben den Kopf
Katharinens gestellt. Dort soll ein jeder Betrachter an diesem
abmessen können, wie sehr die Entfernung die Gegenstände ver-
kleinert -- eine Tatsache, die als malerisch darzustellende ebenso
neu war wie die andere, daß ein beleuchteter Körper Schlag-
schatten und Reflexlichter aussendet und mit ihnen in den ihn

Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Bogenöffnungen ahnen: wir fühlen mit, was jenseits des Rahmens
liegt. Wiederum echt malerisch gedacht ist nach der linken Seite
hin die Erweiterung des Bogenganges durch ein Nebenschiff. Die
hier vorkommende doppelte Überschneidung des Wandaltars durch
die vor ihm stehende Deckenstütze und durch den Schlagschatten
des darauf folgenden Säulenbündels ist von frappantester Wir-
kung — nach dem Maßstabe der historischen Entwicklung der
malerischen Darstellungsmittel eine Kühnheit ersten Ranges. Die
Reproduktion gibt doch nur eine unvollkommene Vorstellung da-
von, wie frei auf dem Gemälde hier alles in der Luft steht, wie
klar die Gegenstände vor- und zurücktreten. Mit diesem teilweisen
Verdecken wird viel mehr gesagt, als die in solchen Fällen schein-
bar größere »Deutlichkeit« des mittelalterlichen Stiles jemals es
konnte. Von köstlicher Naivetät ist dann die Behandlung des
an der unteren Bildecke rechts einbrechenden Schlagschattens; ihn
über das vielfach gebrochene Gewand Katharinens hinzuführen
schien unserem Meister noch unmöglich; so läßt er die Heilige
einfach auf dem Schatten sitzen! Ihr Rad aber, das sie als ihr
Attribut überallhin begleitet, ist wieder sorglich so gelegt, daß
sich sein Schattenbild sauber und scharf auf dem Boden
abzeichnet. — Zu der Entdeckung der Schlagschatten macht
Witz die andere des zurückgeworfenen Lichtes. Ich wüßte
keinen Niederländer dieser Zeit, bei dem etwas Ähnliches vorkäme,
wie auf unserem Bilde der von Katharinens Gebetbuch abprallende,
die dunkle Seite von Wange und Nasenspitze mit einem hellen
Rande auflichtende Reflex (in der Reproduktion wieder nicht zu
voller Wirkung gekommen). — Noch aber ist Witz mit seinen Mit-
teln nicht zu Ende. Er hat an der Tiefe des Kreuzganges nicht
genug, er lockt uns zur Tür hinaus auf die Straße, wo eine höchst
belebte Szene, ein Bild im Bilde gleichsam, sich auftut. Demon-
strativ ist es auf der Fläche des Gemäldes dicht neben den Kopf
Katharinens gestellt. Dort soll ein jeder Betrachter an diesem
abmessen können, wie sehr die Entfernung die Gegenstände ver-
kleinert — eine Tatsache, die als malerisch darzustellende ebenso
neu war wie die andere, daß ein beleuchteter Körper Schlag-
schatten und Reflexlichter aussendet und mit ihnen in den ihn

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[124/0146] Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit Bogenöffnungen ahnen: wir fühlen mit, was jenseits des Rahmens liegt. Wiederum echt malerisch gedacht ist nach der linken Seite hin die Erweiterung des Bogenganges durch ein Nebenschiff. Die hier vorkommende doppelte Überschneidung des Wandaltars durch die vor ihm stehende Deckenstütze und durch den Schlagschatten des darauf folgenden Säulenbündels ist von frappantester Wir- kung — nach dem Maßstabe der historischen Entwicklung der malerischen Darstellungsmittel eine Kühnheit ersten Ranges. Die Reproduktion gibt doch nur eine unvollkommene Vorstellung da- von, wie frei auf dem Gemälde hier alles in der Luft steht, wie klar die Gegenstände vor- und zurücktreten. Mit diesem teilweisen Verdecken wird viel mehr gesagt, als die in solchen Fällen schein- bar größere »Deutlichkeit« des mittelalterlichen Stiles jemals es konnte. Von köstlicher Naivetät ist dann die Behandlung des an der unteren Bildecke rechts einbrechenden Schlagschattens; ihn über das vielfach gebrochene Gewand Katharinens hinzuführen schien unserem Meister noch unmöglich; so läßt er die Heilige einfach auf dem Schatten sitzen! Ihr Rad aber, das sie als ihr Attribut überallhin begleitet, ist wieder sorglich so gelegt, daß sich sein Schattenbild sauber und scharf auf dem Boden abzeichnet. — Zu der Entdeckung der Schlagschatten macht Witz die andere des zurückgeworfenen Lichtes. Ich wüßte keinen Niederländer dieser Zeit, bei dem etwas Ähnliches vorkäme, wie auf unserem Bilde der von Katharinens Gebetbuch abprallende, die dunkle Seite von Wange und Nasenspitze mit einem hellen Rande auflichtende Reflex (in der Reproduktion wieder nicht zu voller Wirkung gekommen). — Noch aber ist Witz mit seinen Mit- teln nicht zu Ende. Er hat an der Tiefe des Kreuzganges nicht genug, er lockt uns zur Tür hinaus auf die Straße, wo eine höchst belebte Szene, ein Bild im Bilde gleichsam, sich auftut. Demon- strativ ist es auf der Fläche des Gemäldes dicht neben den Kopf Katharinens gestellt. Dort soll ein jeder Betrachter an diesem abmessen können, wie sehr die Entfernung die Gegenstände ver- kleinert — eine Tatsache, die als malerisch darzustellende ebenso neu war wie die andere, daß ein beleuchteter Körper Schlag- schatten und Reflexlichter aussendet und mit ihnen in den ihn

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/146>, abgerufen am 28.11.2024.