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Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859.

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habe Nichts gethan. Nein, du gestehst nur Nichts. Wir
nehmen es übel auf, wenn wir durch Mahnung oder Ein-
schränkung zurecht gewiesen werden, und fehlen in demsel-
ben Momente, indem wir zu begangenen Sünden noch die
der Anmaßung und des Trotzes hinzufügen. Wer kann
sagen, er habe nie gegen ein Gesetz gehandelt? Und ge-
setzt, du könntest es, welch eine allzu beschränkte
Unschuld, vor dem Gesetze gut zu sein! Um
wie viel weiter erstreckt sich der Umfang unse-
rer Pflichten, als die Regel des Rechtes! Wie
Vieles fordert die Frömmigkeit, die Menschen-
liebe, die Freigebigkeit, die Treue
-- was Alles
auf den Tafeln der bürgerlichen Gesetze nicht gelesen wird!"
Das ist eine Sprache, wie sie aus dem christlichsten Munde
der Welt zu gehen, geeignet wäre. Kann nun aber, sagt
der Stoiker, unser Tugendideal nicht erreicht werden, oder
wird es nur höchst selten erreicht, so ist doch darnach zu
ringen; und selbst das bloße Aufstellen eines solchen
Ideals und das hinter seinen Forderungen zurückbleibende,
jedoch ernstliche und redliche Streben ist Etwas. So heißt
es bei Seneca, de vita beata 20: "Die Philosophen
leisten nicht, was sie vortragen. Aber sie leisten doch viel,
indem sie es aussprechen, indem sie ein solches Ideal auf-
stellen. Die Beschäftigung mit so heilsamen Studien ist
lobenswerth, wenn es auch am Vollbringen fehlt. Darf
man sich wundern, wenn die, welche sich an so schroffe
Höhen gewagt, nicht bis zum Gipfel kommen? Den Mann,
der Großes versucht, muß man achten, auch wenn er fällt."
Was den von den Stoikern aufgestellten Grundsatz der
Feindesliebe betrifft, so sagt der treffliche Marc Au-
rel
ausdrücklich VII. 22: es zieme sich für den
Menschen, auch diejenigen zu lieben, die ihn
beleidigen
; VII. 36 führt er den Ausspruch des An-

habe Nichts gethan. Nein, du geſtehſt nur Nichts. Wir
nehmen es übel auf, wenn wir durch Mahnung oder Ein-
ſchränkung zurecht gewieſen werden, und fehlen in demſel-
ben Momente, indem wir zu begangenen Sünden noch die
der Anmaßung und des Trotzes hinzufügen. Wer kann
ſagen, er habe nie gegen ein Geſetz gehandelt? Und ge-
ſetzt, du könnteſt es, welch eine allzu beſchränkte
Unſchuld, vor dem Geſetze gut zu ſein! Um
wie viel weiter erſtreckt ſich der Umfang unſe-
rer Pflichten, als die Regel des Rechtes! Wie
Vieles fordert die Frömmigkeit, die Menſchen-
liebe, die Freigebigkeit, die Treue
— was Alles
auf den Tafeln der bürgerlichen Geſetze nicht geleſen wird!“
Das iſt eine Sprache, wie ſie aus dem chriſtlichſten Munde
der Welt zu gehen, geeignet wäre. Kann nun aber, ſagt
der Stoiker, unſer Tugendideal nicht erreicht werden, oder
wird es nur höchſt ſelten erreicht, ſo iſt doch darnach zu
ringen; und ſelbſt das bloße Aufſtellen eines ſolchen
Ideals und das hinter ſeinen Forderungen zurückbleibende,
jedoch ernſtliche und redliche Streben iſt Etwas. So heißt
es bei Seneca, de vita beata 20: „Die Philoſophen
leiſten nicht, was ſie vortragen. Aber ſie leiſten doch viel,
indem ſie es ausſprechen, indem ſie ein ſolches Ideal auf-
ſtellen. Die Beſchäftigung mit ſo heilſamen Studien iſt
lobenswerth, wenn es auch am Vollbringen fehlt. Darf
man ſich wundern, wenn die, welche ſich an ſo ſchroffe
Höhen gewagt, nicht bis zum Gipfel kommen? Den Mann,
der Großes verſucht, muß man achten, auch wenn er fällt.“
Was den von den Stoikern aufgeſtellten Grundſatz der
Feindesliebe betrifft, ſo ſagt der treffliche Marc Au-
rel
ausdrücklich VII. 22: es zieme ſich für den
Menſchen, auch diejenigen zu lieben, die ihn
beleidigen
; VII. 36 führt er den Ausſpruch des An-

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[77/0099] habe Nichts gethan. Nein, du geſtehſt nur Nichts. Wir nehmen es übel auf, wenn wir durch Mahnung oder Ein- ſchränkung zurecht gewieſen werden, und fehlen in demſel- ben Momente, indem wir zu begangenen Sünden noch die der Anmaßung und des Trotzes hinzufügen. Wer kann ſagen, er habe nie gegen ein Geſetz gehandelt? Und ge- ſetzt, du könnteſt es, welch eine allzu beſchränkte Unſchuld, vor dem Geſetze gut zu ſein! Um wie viel weiter erſtreckt ſich der Umfang unſe- rer Pflichten, als die Regel des Rechtes! Wie Vieles fordert die Frömmigkeit, die Menſchen- liebe, die Freigebigkeit, die Treue — was Alles auf den Tafeln der bürgerlichen Geſetze nicht geleſen wird!“ Das iſt eine Sprache, wie ſie aus dem chriſtlichſten Munde der Welt zu gehen, geeignet wäre. Kann nun aber, ſagt der Stoiker, unſer Tugendideal nicht erreicht werden, oder wird es nur höchſt ſelten erreicht, ſo iſt doch darnach zu ringen; und ſelbſt das bloße Aufſtellen eines ſolchen Ideals und das hinter ſeinen Forderungen zurückbleibende, jedoch ernſtliche und redliche Streben iſt Etwas. So heißt es bei Seneca, de vita beata 20: „Die Philoſophen leiſten nicht, was ſie vortragen. Aber ſie leiſten doch viel, indem ſie es ausſprechen, indem ſie ein ſolches Ideal auf- ſtellen. Die Beſchäftigung mit ſo heilſamen Studien iſt lobenswerth, wenn es auch am Vollbringen fehlt. Darf man ſich wundern, wenn die, welche ſich an ſo ſchroffe Höhen gewagt, nicht bis zum Gipfel kommen? Den Mann, der Großes verſucht, muß man achten, auch wenn er fällt.“ Was den von den Stoikern aufgeſtellten Grundſatz der Feindesliebe betrifft, ſo ſagt der treffliche Marc Au- rel ausdrücklich VII. 22: es zieme ſich für den Menſchen, auch diejenigen zu lieben, die ihn beleidigen; VII. 36 führt er den Ausſpruch des An-

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Zitationshilfe: Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/daumer_krone_1859/99>, abgerufen am 22.11.2024.