Argeier, in die Unterwelt. Man sieht also, die Lerna im Sinne dieses Sumpfes oder Sees war in antiker Vorstel- lung ein Sünden- und Höllenpfuhl; um so mehr ist zu behaupten, daß die Schlange, die sich da aufgehal- ten haben soll, das Böse ist, welches Herakles als mora- lischer Heiland zu besiegen hatte. Es gibt hier Alles ei- nen großen religiösen Ernst und eine Symbolik und Bil- dersprache zu erkennen, die mit der biblischen und christli- chen die größte Aehnlichkeit hat.
Um das im lernäischen Sünden- und Höllenpfuhle hausende Ungeheuer zu bezwingen, war das Element des Feuers nöthig. Mit brennenden Pfeilen treibt Herakles die furchtbare, vielköpfige Schlange aus ihrem Lager her- aus; und um die Stellen der ihr abgeschlagenen Häupter auszubrennen und so zu verhindern, daß sie nicht von Neuem wuchsen, zündet Jolaos, der Wagenlenker des Herakles, einen Wald an und bedient sich der davon ge- nommenen Feuerbrände. Sicher liegt auch hier wieder ein bedeutender Gedanke verborgen. Die Dichtung wollte wohl andeuten: es sei, um die Aeußerungen und Erscheinungen der selbstischen Menschennatur gründlich und für immer niederzuschlagen, eine feurige Liebe zum Guten und ein brennender Ernst und Eifer im Streben nach moralischer Vollkommenheit nöthig, da oberflächliche Siege unnütz seien und das durch solche überwältigte und scheinbar vertilgte Böse sich immer wieder erneuere, ja in nur noch energi- scherer Weise -- verdoppelt und verdreifacht gleichsam -- sein Haupt erhebe. Darum sagt der Mythus: statt ei- nes Kopfes, der der Hydra abgeschlagen wurde, seien zwei oder gar drei hervorgekommen, wogegen nur des Jolaos Feuerbrand half. Wegen der stets neu hervortrei- benden Köpfe wurde die Schlange palimblastes und excetra genannt. Etwas dem Sinne nach Aehnliches, doch
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Argeier, in die Unterwelt. Man ſieht alſo, die Lerna im Sinne dieſes Sumpfes oder Sees war in antiker Vorſtel- lung ein Sünden- und Höllenpfuhl; um ſo mehr iſt zu behaupten, daß die Schlange, die ſich da aufgehal- ten haben ſoll, das Böſe iſt, welches Herakles als mora- liſcher Heiland zu beſiegen hatte. Es gibt hier Alles ei- nen großen religiöſen Ernſt und eine Symbolik und Bil- derſprache zu erkennen, die mit der bibliſchen und chriſtli- chen die größte Aehnlichkeit hat.
Um das im lernäiſchen Sünden- und Höllenpfuhle hauſende Ungeheuer zu bezwingen, war das Element des Feuers nöthig. Mit brennenden Pfeilen treibt Herakles die furchtbare, vielköpfige Schlange aus ihrem Lager her- aus; und um die Stellen der ihr abgeſchlagenen Häupter auszubrennen und ſo zu verhindern, daß ſie nicht von Neuem wuchſen, zündet Jolaos, der Wagenlenker des Herakles, einen Wald an und bedient ſich der davon ge- nommenen Feuerbrände. Sicher liegt auch hier wieder ein bedeutender Gedanke verborgen. Die Dichtung wollte wohl andeuten: es ſei, um die Aeußerungen und Erſcheinungen der ſelbſtiſchen Menſchennatur gründlich und für immer niederzuſchlagen, eine feurige Liebe zum Guten und ein brennender Ernſt und Eifer im Streben nach moraliſcher Vollkommenheit nöthig, da oberflächliche Siege unnütz ſeien und das durch ſolche überwältigte und ſcheinbar vertilgte Böſe ſich immer wieder erneuere, ja in nur noch energi- ſcherer Weiſe — verdoppelt und verdreifacht gleichſam — ſein Haupt erhebe. Darum ſagt der Mythus: ſtatt ei- nes Kopfes, der der Hydra abgeſchlagen wurde, ſeien zwei oder gar drei hervorgekommen, wogegen nur des Jolaos Feuerbrand half. Wegen der ſtets neu hervortrei- benden Köpfe wurde die Schlange παλιμβλαστης und excetra genannt. Etwas dem Sinne nach Aehnliches, doch
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Argeier, in die Unterwelt. Man ſieht alſo, die Lerna im
Sinne dieſes Sumpfes oder Sees war in antiker Vorſtel-
lung ein Sünden- und Höllenpfuhl; um ſo mehr
iſt zu behaupten, daß die Schlange, die ſich da aufgehal-
ten haben ſoll, das Böſe iſt, welches Herakles als mora-
liſcher Heiland zu beſiegen hatte. Es gibt hier Alles ei-
nen großen religiöſen Ernſt und eine Symbolik und Bil-
derſprache zu erkennen, die mit der bibliſchen und chriſtli-
chen die größte Aehnlichkeit hat.
Um das im lernäiſchen Sünden- und Höllenpfuhle
hauſende Ungeheuer zu bezwingen, war das Element des
Feuers nöthig. Mit brennenden Pfeilen treibt Herakles
die furchtbare, vielköpfige Schlange aus ihrem Lager her-
aus; und um die Stellen der ihr abgeſchlagenen Häupter
auszubrennen und ſo zu verhindern, daß ſie nicht von
Neuem wuchſen, zündet Jolaos, der Wagenlenker des
Herakles, einen Wald an und bedient ſich der davon ge-
nommenen Feuerbrände. Sicher liegt auch hier wieder ein
bedeutender Gedanke verborgen. Die Dichtung wollte wohl
andeuten: es ſei, um die Aeußerungen und Erſcheinungen
der ſelbſtiſchen Menſchennatur gründlich und für immer
niederzuſchlagen, eine feurige Liebe zum Guten und ein
brennender Ernſt und Eifer im Streben nach moraliſcher
Vollkommenheit nöthig, da oberflächliche Siege unnütz ſeien
und das durch ſolche überwältigte und ſcheinbar vertilgte
Böſe ſich immer wieder erneuere, ja in nur noch energi-
ſcherer Weiſe — verdoppelt und verdreifacht gleichſam —
ſein Haupt erhebe. Darum ſagt der Mythus: ſtatt ei-
nes Kopfes, der der Hydra abgeſchlagen wurde, ſeien
zwei oder gar drei hervorgekommen, wogegen nur des
Jolaos Feuerbrand half. Wegen der ſtets neu hervortrei-
benden Köpfe wurde die Schlange παλιμβλαστης und
excetra genannt. Etwas dem Sinne nach Aehnliches, doch
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Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/daumer_krone_1859/55>, abgerufen am 27.07.2024.
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