wahrhaft menschlicher Charakter, sein religiöser Sinn und seine Humanität gaben dem Ganzen ein eigenes, hervor- stechendes Gepräge. Ohne den wesentlichen Geist des stoischen Systemes aufzuopfern und den strengen moralischen Grundsätzen Etwas zu vergeben, verbindet er damit in der Anwendung mehr Milde und Toleranz in Beurtheilung der nicht nach denselben Grundsätzen lebenden Menschen, mehr Nachsicht mit den Fehlenden, mehr Liebe und Ach- tung für die Menschheit in jedem Individuum des Men- schengeschlechts. Die theoretischen Behauptungen des Syste- mes von einem vernünftigen Geiste, welcher die Seele des Weltalls ist, braucht er nur zur Befestigung moralischer Grundsätze und zur Belebung der allgemeinen Menschen- liebe. Der Mensch soll sich als das Glied eines Ganzen, welches von einer höchst weisen Intelligenz regiert wird, sich mit anderen Menschen als Kind eines gerechten und liebevollen Vaters, alle seine Schicksale als weise Fügungen des obersten Gesetzgebers der Natur betrachten und seinen Privatwillen dem unveränderlichen Willen des Einen höchst weisen Wesens unterwerfen. Diese religiöse Ansicht der Welt und des Menschen liegt zwar in dem stoischen Sy- steme überhaupt; sie ist aber doch durch die eigene Denkart Antonin's mehr hervorgehoben, und hat dadurch etwas ungemein Herzliches erhalten. Eine Folge davon ist auch diese, daß er, so wie Epiktet, weit weniger dem Selbst- morde das Wort redet. Beide verlangen nur eine der Vernunft angemessene ruhige Ergebung in den Willen Got- tes, eine furchtlose Erwartung des Todes und ein fleißiges Andenken an ihn, als moralisches Uebungs- und Stär- kungsmittel." Selbst die Terminologie der Stoiker nähert sich der christlichen, so z. B. was den Ausdruck sarx, caro, Fleisch, betrifft. Non est summa felicitatis nostrae in carne ponenda, sagt Senecaepist. 74. Nunquam
wahrhaft menſchlicher Charakter, ſein religiöſer Sinn und ſeine Humanität gaben dem Ganzen ein eigenes, hervor- ſtechendes Gepräge. Ohne den weſentlichen Geiſt des ſtoiſchen Syſtemes aufzuopfern und den ſtrengen moraliſchen Grundſätzen Etwas zu vergeben, verbindet er damit in der Anwendung mehr Milde und Toleranz in Beurtheilung der nicht nach denſelben Grundſätzen lebenden Menſchen, mehr Nachſicht mit den Fehlenden, mehr Liebe und Ach- tung für die Menſchheit in jedem Individuum des Men- ſchengeſchlechts. Die theoretiſchen Behauptungen des Syſte- mes von einem vernünftigen Geiſte, welcher die Seele des Weltalls iſt, braucht er nur zur Befeſtigung moraliſcher Grundſätze und zur Belebung der allgemeinen Menſchen- liebe. Der Menſch ſoll ſich als das Glied eines Ganzen, welches von einer höchſt weiſen Intelligenz regiert wird, ſich mit anderen Menſchen als Kind eines gerechten und liebevollen Vaters, alle ſeine Schickſale als weiſe Fügungen des oberſten Geſetzgebers der Natur betrachten und ſeinen Privatwillen dem unveränderlichen Willen des Einen höchſt weiſen Weſens unterwerfen. Dieſe religiöſe Anſicht der Welt und des Menſchen liegt zwar in dem ſtoiſchen Sy- ſteme überhaupt; ſie iſt aber doch durch die eigene Denkart Antonin’s mehr hervorgehoben, und hat dadurch etwas ungemein Herzliches erhalten. Eine Folge davon iſt auch dieſe, daß er, ſo wie Epiktet, weit weniger dem Selbſt- morde das Wort redet. Beide verlangen nur eine der Vernunft angemeſſene ruhige Ergebung in den Willen Got- tes, eine furchtloſe Erwartung des Todes und ein fleißiges Andenken an ihn, als moraliſches Uebungs- und Stär- kungsmittel.“ Selbſt die Terminologie der Stoiker nähert ſich der chriſtlichen, ſo z. B. was den Ausdruck σαρξ, caro, Fleiſch, betrifft. Non est summa felicitatis nostrae in carne ponenda, ſagt Senecaepist. 74. Nunquam
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0102"n="80"/>
wahrhaft menſchlicher Charakter, ſein religiöſer Sinn und<lb/>ſeine Humanität gaben dem Ganzen ein eigenes, hervor-<lb/>ſtechendes Gepräge. Ohne den weſentlichen Geiſt des<lb/>ſtoiſchen Syſtemes aufzuopfern und den ſtrengen moraliſchen<lb/>
Grundſätzen Etwas zu vergeben, verbindet er damit in der<lb/>
Anwendung mehr Milde und Toleranz in Beurtheilung<lb/>
der nicht nach denſelben Grundſätzen lebenden Menſchen,<lb/>
mehr Nachſicht mit den Fehlenden, mehr Liebe und Ach-<lb/>
tung für die Menſchheit in jedem Individuum des Men-<lb/>ſchengeſchlechts. Die theoretiſchen Behauptungen des Syſte-<lb/>
mes von einem vernünftigen Geiſte, welcher die Seele des<lb/>
Weltalls iſt, braucht er nur zur Befeſtigung moraliſcher<lb/>
Grundſätze und zur Belebung der allgemeinen Menſchen-<lb/>
liebe. Der Menſch ſoll ſich als das Glied eines Ganzen,<lb/>
welches von einer höchſt weiſen Intelligenz regiert wird,<lb/>ſich mit anderen Menſchen als Kind eines gerechten und<lb/>
liebevollen Vaters, alle ſeine Schickſale als weiſe Fügungen<lb/>
des oberſten Geſetzgebers der Natur betrachten und ſeinen<lb/>
Privatwillen dem unveränderlichen Willen des Einen höchſt<lb/>
weiſen Weſens unterwerfen. Dieſe religiöſe Anſicht der<lb/>
Welt und des Menſchen liegt zwar in dem ſtoiſchen Sy-<lb/>ſteme überhaupt; ſie iſt aber doch durch die eigene Denkart<lb/><hirendition="#g">Antonin</hi>’s mehr hervorgehoben, und hat dadurch etwas<lb/>
ungemein Herzliches erhalten. Eine Folge davon iſt auch<lb/>
dieſe, daß er, ſo wie <hirendition="#g">Epiktet</hi>, weit weniger dem Selbſt-<lb/>
morde das Wort redet. Beide verlangen nur eine der<lb/>
Vernunft angemeſſene ruhige Ergebung in den Willen Got-<lb/>
tes, eine furchtloſe Erwartung des Todes und ein fleißiges<lb/>
Andenken an ihn, als moraliſches Uebungs- und Stär-<lb/>
kungsmittel.“ Selbſt die Terminologie der Stoiker nähert<lb/>ſich der chriſtlichen, ſo z. B. was den Ausdruck σαρξ,<lb/><hirendition="#aq">caro,</hi> Fleiſch, betrifft. <hirendition="#aq">Non est summa felicitatis nostrae<lb/>
in carne ponenda,</hi>ſagt <hirendition="#g">Seneca</hi><hirendition="#aq">epist. 74. Nunquam<lb/></hi></p></div></div></body></text></TEI>
[80/0102]
wahrhaft menſchlicher Charakter, ſein religiöſer Sinn und
ſeine Humanität gaben dem Ganzen ein eigenes, hervor-
ſtechendes Gepräge. Ohne den weſentlichen Geiſt des
ſtoiſchen Syſtemes aufzuopfern und den ſtrengen moraliſchen
Grundſätzen Etwas zu vergeben, verbindet er damit in der
Anwendung mehr Milde und Toleranz in Beurtheilung
der nicht nach denſelben Grundſätzen lebenden Menſchen,
mehr Nachſicht mit den Fehlenden, mehr Liebe und Ach-
tung für die Menſchheit in jedem Individuum des Men-
ſchengeſchlechts. Die theoretiſchen Behauptungen des Syſte-
mes von einem vernünftigen Geiſte, welcher die Seele des
Weltalls iſt, braucht er nur zur Befeſtigung moraliſcher
Grundſätze und zur Belebung der allgemeinen Menſchen-
liebe. Der Menſch ſoll ſich als das Glied eines Ganzen,
welches von einer höchſt weiſen Intelligenz regiert wird,
ſich mit anderen Menſchen als Kind eines gerechten und
liebevollen Vaters, alle ſeine Schickſale als weiſe Fügungen
des oberſten Geſetzgebers der Natur betrachten und ſeinen
Privatwillen dem unveränderlichen Willen des Einen höchſt
weiſen Weſens unterwerfen. Dieſe religiöſe Anſicht der
Welt und des Menſchen liegt zwar in dem ſtoiſchen Sy-
ſteme überhaupt; ſie iſt aber doch durch die eigene Denkart
Antonin’s mehr hervorgehoben, und hat dadurch etwas
ungemein Herzliches erhalten. Eine Folge davon iſt auch
dieſe, daß er, ſo wie Epiktet, weit weniger dem Selbſt-
morde das Wort redet. Beide verlangen nur eine der
Vernunft angemeſſene ruhige Ergebung in den Willen Got-
tes, eine furchtloſe Erwartung des Todes und ein fleißiges
Andenken an ihn, als moraliſches Uebungs- und Stär-
kungsmittel.“ Selbſt die Terminologie der Stoiker nähert
ſich der chriſtlichen, ſo z. B. was den Ausdruck σαρξ,
caro, Fleiſch, betrifft. Non est summa felicitatis nostrae
in carne ponenda, ſagt Seneca epist. 74. Nunquam
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/daumer_krone_1859/102>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.