Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Capitel.
vermögend war den Reichthum des Mittelalters an Lebens-
formen bis zum klaren Bewustseyn der Mittel und Wege
zu durchdringen, durch welche Regierungs-Macht und
Volksfreiheit in eine Ehe ohne Scheidung treten. Daher
in so vielen landständischen Geschichten das Mistrauen der
auf Bedingung gestellten Huldigungen (y si no, no), das
unmittelbare Eingreifen der Stände in die auswärtigen An-
gelegenheiten, in die Landes-Verwaltung, besonders in
das Cassenwesen und überhaupt jenes im Ganzen mehr
Standes-, und Corporations- als Staats-Leben, welches
an Körperschaften und Gemeinden die Unabhängigkeit stück-
weise verleiht, an welcher der Staat darben muß, und un-
veräußerliche Staats-Gewalten an den Privat-Besitz ver-
schleudert. Wenn England durch den eigenthümlich orga-
nischen Grund-Bau seiner Verfassung, und sein bedeu-
tendes Leben nach Außen vielen dieser Klippen glücklicher
entging, so konnte es doch den großen Erfindungen nicht
zuvoreilen, welche erst seit den letzten Menschenaltern eine
volle Öffentlichkeit der Staatsverwaltungen möglich ma-
chen, und eine Volksversammlung der Geister, die einzige
gegenwärtig anwendbare, deren Lebensluft die rasche
Schrift-Verbreitung ist, um die Staatsverfassung ver-
sammeln.

Unleugbar sind indeß der überlieferten Bestandtheile
wieder seit der Reformbill viel weniger geworden, und
hier ist ein Gegenstand der Sorge, aber die übrig geblie-
benen sind verstandener, und ihre Zweckmäßigkeit verspricht
zu ersetzen was die Gewohnheit verloren hat. Das Ver-
hältniß ist zu jener sittlichen Klarheit erhoben, in welcher
die Stärke der heutigen Verfassungen beruht. Die Regie-
rung wird fortan nicht mit einer über dem Parlament
stehenden, weil die Wahlen beherrschenden Parthey transigi-

Drittes Capitel.
vermoͤgend war den Reichthum des Mittelalters an Lebens-
formen bis zum klaren Bewuſtſeyn der Mittel und Wege
zu durchdringen, durch welche Regierungs-Macht und
Volksfreiheit in eine Ehe ohne Scheidung treten. Daher
in ſo vielen landſtaͤndiſchen Geſchichten das Mistrauen der
auf Bedingung geſtellten Huldigungen (y si no, no), das
unmittelbare Eingreifen der Staͤnde in die auswaͤrtigen An-
gelegenheiten, in die Landes-Verwaltung, beſonders in
das Caſſenweſen und uͤberhaupt jenes im Ganzen mehr
Standes-, und Corporations- als Staats-Leben, welches
an Koͤrperſchaften und Gemeinden die Unabhaͤngigkeit ſtuͤck-
weiſe verleiht, an welcher der Staat darben muß, und un-
veraͤußerliche Staats-Gewalten an den Privat-Beſitz ver-
ſchleudert. Wenn England durch den eigenthuͤmlich orga-
niſchen Grund-Bau ſeiner Verfaſſung, und ſein bedeu-
tendes Leben nach Außen vielen dieſer Klippen gluͤcklicher
entging, ſo konnte es doch den großen Erfindungen nicht
zuvoreilen, welche erſt ſeit den letzten Menſchenaltern eine
volle Öffentlichkeit der Staatsverwaltungen moͤglich ma-
chen, und eine Volksverſammlung der Geiſter, die einzige
gegenwaͤrtig anwendbare, deren Lebensluft die raſche
Schrift-Verbreitung iſt, um die Staatsverfaſſung ver-
ſammeln.

Unleugbar ſind indeß der uͤberlieferten Beſtandtheile
wieder ſeit der Reformbill viel weniger geworden, und
hier iſt ein Gegenſtand der Sorge, aber die uͤbrig geblie-
benen ſind verſtandener, und ihre Zweckmaͤßigkeit verſpricht
zu erſetzen was die Gewohnheit verloren hat. Das Ver-
haͤltniß iſt zu jener ſittlichen Klarheit erhoben, in welcher
die Staͤrke der heutigen Verfaſſungen beruht. Die Regie-
rung wird fortan nicht mit einer uͤber dem Parlament
ſtehenden, weil die Wahlen beherrſchenden Parthey transigi-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0082" n="70"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Capitel</hi>.</fw><lb/>
vermo&#x0364;gend war den Reichthum des Mittelalters an Lebens-<lb/>
formen bis zum klaren Bewu&#x017F;t&#x017F;eyn der Mittel und Wege<lb/>
zu durchdringen, durch welche Regierungs-Macht und<lb/>
Volksfreiheit in eine Ehe ohne Scheidung treten. Daher<lb/>
in &#x017F;o vielen land&#x017F;ta&#x0364;ndi&#x017F;chen Ge&#x017F;chichten das Mistrauen der<lb/>
auf Bedingung ge&#x017F;tellten Huldigungen (<hi rendition="#aq">y si no, no</hi>), das<lb/>
unmittelbare Eingreifen der Sta&#x0364;nde in die auswa&#x0364;rtigen An-<lb/>
gelegenheiten, in die Landes-Verwaltung, be&#x017F;onders in<lb/>
das Ca&#x017F;&#x017F;enwe&#x017F;en und u&#x0364;berhaupt jenes im Ganzen mehr<lb/>
Standes-, und Corporations- als Staats-Leben, welches<lb/>
an Ko&#x0364;rper&#x017F;chaften und Gemeinden die Unabha&#x0364;ngigkeit &#x017F;tu&#x0364;ck-<lb/>
wei&#x017F;e verleiht, an welcher der Staat darben muß, und un-<lb/>
vera&#x0364;ußerliche Staats-Gewalten an den Privat-Be&#x017F;itz ver-<lb/>
&#x017F;chleudert. Wenn England durch den eigenthu&#x0364;mlich orga-<lb/>
ni&#x017F;chen Grund-Bau &#x017F;einer Verfa&#x017F;&#x017F;ung, und &#x017F;ein bedeu-<lb/>
tendes Leben nach Außen vielen die&#x017F;er Klippen glu&#x0364;cklicher<lb/>
entging, &#x017F;o konnte es doch den großen Erfindungen nicht<lb/>
zuvoreilen, welche er&#x017F;t &#x017F;eit den letzten Men&#x017F;chenaltern eine<lb/>
volle Öffentlichkeit der Staatsverwaltungen mo&#x0364;glich ma-<lb/>
chen, und eine Volksver&#x017F;ammlung der Gei&#x017F;ter, die einzige<lb/>
gegenwa&#x0364;rtig anwendbare, deren Lebensluft die ra&#x017F;che<lb/>
Schrift-Verbreitung i&#x017F;t, um die Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ung ver-<lb/>
&#x017F;ammeln.</p><lb/>
              <p>Unleugbar &#x017F;ind indeß der u&#x0364;berlieferten Be&#x017F;tandtheile<lb/>
wieder &#x017F;eit der Reformbill viel weniger geworden, und<lb/>
hier i&#x017F;t ein Gegen&#x017F;tand der Sorge, aber die u&#x0364;brig geblie-<lb/>
benen &#x017F;ind ver&#x017F;tandener, und ihre Zweckma&#x0364;ßigkeit ver&#x017F;pricht<lb/>
zu er&#x017F;etzen was die Gewohnheit verloren hat. Das Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltniß i&#x017F;t zu jener &#x017F;ittlichen Klarheit erhoben, in welcher<lb/>
die Sta&#x0364;rke der heutigen Verfa&#x017F;&#x017F;ungen beruht. Die Regie-<lb/>
rung wird fortan nicht mit einer u&#x0364;ber dem Parlament<lb/>
&#x017F;tehenden, weil die Wahlen beherr&#x017F;chenden Parthey transigi-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0082] Drittes Capitel. vermoͤgend war den Reichthum des Mittelalters an Lebens- formen bis zum klaren Bewuſtſeyn der Mittel und Wege zu durchdringen, durch welche Regierungs-Macht und Volksfreiheit in eine Ehe ohne Scheidung treten. Daher in ſo vielen landſtaͤndiſchen Geſchichten das Mistrauen der auf Bedingung geſtellten Huldigungen (y si no, no), das unmittelbare Eingreifen der Staͤnde in die auswaͤrtigen An- gelegenheiten, in die Landes-Verwaltung, beſonders in das Caſſenweſen und uͤberhaupt jenes im Ganzen mehr Standes-, und Corporations- als Staats-Leben, welches an Koͤrperſchaften und Gemeinden die Unabhaͤngigkeit ſtuͤck- weiſe verleiht, an welcher der Staat darben muß, und un- veraͤußerliche Staats-Gewalten an den Privat-Beſitz ver- ſchleudert. Wenn England durch den eigenthuͤmlich orga- niſchen Grund-Bau ſeiner Verfaſſung, und ſein bedeu- tendes Leben nach Außen vielen dieſer Klippen gluͤcklicher entging, ſo konnte es doch den großen Erfindungen nicht zuvoreilen, welche erſt ſeit den letzten Menſchenaltern eine volle Öffentlichkeit der Staatsverwaltungen moͤglich ma- chen, und eine Volksverſammlung der Geiſter, die einzige gegenwaͤrtig anwendbare, deren Lebensluft die raſche Schrift-Verbreitung iſt, um die Staatsverfaſſung ver- ſammeln. Unleugbar ſind indeß der uͤberlieferten Beſtandtheile wieder ſeit der Reformbill viel weniger geworden, und hier iſt ein Gegenſtand der Sorge, aber die uͤbrig geblie- benen ſind verſtandener, und ihre Zweckmaͤßigkeit verſpricht zu erſetzen was die Gewohnheit verloren hat. Das Ver- haͤltniß iſt zu jener ſittlichen Klarheit erhoben, in welcher die Staͤrke der heutigen Verfaſſungen beruht. Die Regie- rung wird fortan nicht mit einer uͤber dem Parlament ſtehenden, weil die Wahlen beherrſchenden Parthey transigi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/82
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/82>, abgerufen am 22.12.2024.